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Viel Platz für kleine Fächer: Volumen, Identität und Charakter

Die Freie Universität Berlin eröffnet ihren Neubau für die Kleinen Fächer der Geschichts- und Kulturwissenschaften.

Dass Material in der Architektur mehr ist als seine bloß zweckmäßige und nützliche Verwendung, ist am Neubau für die Kleinen Fächer des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin vorzüglich zu sehen. Er wurde an der Nordwestecke des riesigen Grundstücksblocks zwischen Thielallee und Fabeckstraße in Dahlem errichtet, auf dem die Philologien und Erziehungswissenschaften der Hochschule beheimatet sind.

In den 1960er Jahren entwarfen die damaligen Architektur-Avantgardisten Georges Candilis, Alexis Josic, Shadrach Woods und Manfred Schiedhelm dessen Masterplan als teppichartige Struktur, die mit immer gleichen Raummodulen theoretisch orts- und grenzenlos erweiterbar sein sollte; von Dahlem bis Paris – oder auch nur bis Potsdam oder Wilmersdorf. Im Horizont der Zeit war damit auch der Wunsch verknüpft, im Block der Geisteswissenschaften das aus gründungsgeschichtlichen Umständen oft vermisste Haupt- und Identifikationsgebäude der Freien Universität zu schaffen; sie musste ihre bauliche Identität aus dem amerikanischen Campus-Modell, also den Grün- und Parkflächen zwischen den Gebäuden gewinnen – anders als etwa die heutige Humboldt-Universität zu Berlin. Erst mit der architektonisch hochgradig identifizierbaren, aus einer Metapher generierten und den Ort prägenden neuen Philologischen Bibliothek „The Brain“ von Lord Norman Foster näherte sich der Gebäudeteppich im Jahr 2005 solch übergreifenden Aufgaben zumindest an. Die sogenannten Kleinen Fächer der Geschichts- und Kulturwissenschaften arrondieren nun glücklich das universitäre Schwergewicht, selbst wenn den Geisteswissenschaften in der heutigen Bildungs- und Universitätslandschaft nicht mehr die Bedeutung zukommt, die sie als Krone einer Alma Mater einst innehatten. Nützlichkeit und Empirie, nicht der spekulationsgeneigte Gedankenflug des Geistes und seiner Hermeneutik dominieren heutzutage den Betrieb.

Der Münchner Architekt Florian Nagler gewann den Wettbewerb um den Erweiterungsbau 2004 durch die Maßgabe, die Baustruktur der Rost- und Silberlaube weiter zu stricken, sie nicht mit neueren und jüngeren Architekturhaltungen zu kontrastieren oder zu durchqueren. Doch verwendete er zur Einhüllung der weitgehend mit den Bestandsbauten übereinstimmenden Struktur seines neuen Trakts Zedernholz. Solange dieses im natürlichen Patinierungsprozess noch nicht aus sich heraus silbergrau geworden ist, ist es mit einem Schutzanstrich versehen, der die künftige Naturfarbe der Zeder gleichsam vorweg imitiert.

Rasch wurde der Gebäudeteil daher „Holzlaube“ genannt. Ironisch offensiv nimmt dieses Etikett auf, was als Schlag- und Spottwort einst auf die Rostlaube gemünzt war. Aber durch das Holzmaterial wirkt der Bau optisch und ästhetisch deutlich voluminöser, weicher und runder als seine Vorgängerbauten innerhalb des Komplexes. Und er erhält einen eigenen Charakter. Wenn man es leicht dramatisch sagen will, gewinnt er allein schon durch das Material so etwas wie Persönlichkeit und Identität. Mithin, er ist, wenn man so will, architektonischer geworden als der historische Bestand.

Natürlich wirkt daran auch mit, dass die Holzfassade äußerlich beruhigt ist. Nagler applizierte an sie nicht so viel „Krimskrams“, wie der Architektenjargon lautet, also Seilzüge und Schienen für die Sonnenschutzrollos oder Fensterbedachungen. Er integrierte diese notwendigen Vorrichtungen gegen Hitze, Regen, Sturm oder Sonnenlicht in die Fensterkonstruktion und setzte sie hinter beziehungsweise in die Holzfassade. Anders als bei der Rost- und Silberlaube benutzte er die technisch erforderliche Gebäudeausstattung nicht als konstruktives Ornament, oder anders, er fügte sie nicht zur ornamentierten Konstruktion zusammen. Vielmehr gestaltete er die Holzfassade glatt und flächig, ohne Kanten und Aufsätze, ohne vorgesetzte Module, vorkragende Gitterroste oder was auch immer. Die Zedernlatten liegen bündig wie eine Haut oder ein Kleid um die Baustruktur, bloß dass dieses Kleid aus Holz genäht wurde.

Auch im Inneren ist der Neubau geglättet und aufgeräumt, die labyrinthische Verwirrung, die gerade dem ältesten Bauteil, der Rostlaube, eigen ist, ist verschwunden, soweit es in der strukturellen Zwangsordnung dieser Architektur möglich ist. Die Materialien sind robust, aber nicht grob, der Estrichboden und die weißen Wände freundlich hell, wozu auch beiträgt, dass die Fenster deutlich verbreitert wurden; in der Höhe war wegen der baulichen Vorgaben nicht viel möglich. Gefühlt sind sie doppelt so breit wie die Modulfenster der Bestandsbauten, die oftmals an Schießscharten erinnern. Mit Sorge schielt man nur auf die seitlich angeordneten Lüftungslamellen, weil sie viel Putz- und Pflegeaufwand erfordern, um im Laufe der Zeit nicht grau und unansehnlich zu werden. Aber Lindgrün an den Türen, Grasgrün und ein kräftiges Blau in den Lese- und Chill-Inseln machen einen unaufdringlich freundlichen, einladenden Eindruck und lassen einen angenehmen Aufenthalt erwarten. Dass sie mit weniger Tischen und mehr Liegekissen ausgestattet sind, dürfte den Alltagsgewohnheiten der Digital Natives, der heutigen Studentengeneration, geschuldet sein. Der Laptop – wörtlich Schoßaufsatz – ist das sprechende Gerät der Epoche.

Zur Nagelprobe musste angesichts der benachbarten Erziehungswissenschaftlichen wie der Philologischen Bibliothek der Bibliotheksneubau für die Kleinen Fächer werden. Die Aufgabe war enorm. Mehrere Institutsbibliotheken mussten mit Bibliotheken der Bestandsinstitute im Gebäude zu insgesamt 24 Bibliotheken zusammengeführt werden, oft hoch spezialisierte, kostbare und delikate Büchersammlungen der Judaistik, Turkologie, Religionsgeschichte oder Archäologie – aber auch von Fächern der Naturwissenschaften; 30 Kilometer Bücher wurden zusammengeführt. Natürlich wurden sie nach den neuesten Methoden rekatalogisiert und jedes Buch zur einfachen und schnellen Ausleihe mit einem elektronischen Chip versehen, sodass nun gemeinsam mit der Erziehungswissenschaftlichen eine formidable Bereichsbibliothek zu kultur- und geschichtswissenschaftlichen Themen für effektives Forschen bereit steht.

Florian Nagler besorgte dafür die architektonische Hülle und verband sie mit der Erziehungswissenschaftlichen Bibliothek. Übersichtlich und hell sind die Regale und die immerhin 950 WLAN-gestützten Arbeitsplätze arrangiert, teils auf Galerien mit luftigen Frei- und Begegnungsflächen. Leicht gegeneinander versetzte Quadrate öffnen die Etagen zum Tageslicht, das durch zwölf gläserne Pyramidenstümpfe auf dem Dach hinabgeleitet wird. Aber ein grandioses Raumerlebnis will sich nicht einstellen, es regiert vielmehr die nüchterne, sachorientierte Pragmatik. Über eine Kolonnade öffnet sich die Bibliothek zu einem mit Obstbäumen bestandenen, von wunderbarer Klematis umsäumten Platz, der wie alle Außenanlagen vom Berliner Landschaftsbüro Häfner Jiménez angelegt wurde.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein notierte gelegentlich, dass nicht alles zweckmäßig Gebaute deswegen schon Architektur sei. Florian Naglers Arbeit an der Fassade des Neubaus für die Kultur- und Geschichtswissenschaften mit ihren Kleinen Fächern kann als Etüde und Beleg für diesen Satz gelesen werden. Der strukturalistischen Verweigerung des Architektonischen, die vor rund 50 Jahren beim Bau der Rostlaube den avantgardistischen Ton des Zeitgeistes vorgab, hat er ohne Lautsprecherei und künstlerisches Dröhnen, viel wirksamer mit einfachen, doch nicht schlichten Mitteln zurückgegeben, was Architektur ausmacht: nämlich Volumen, Identität und Charakter. Und hat dabei doch dem historischen Bestand durchs Weiterbauen der Struktur Respekt gezollt. So soll es sein.

Der Autor studierte Literaturwissenschaft, Geschichte, Philosophie in Heidelberg und Berlin. Seit 1982 ist er als Publizist, Architekturkritiker, Herausgeber und Vortragender tätig. Er lebt in Berlin. Zu seinen Werken zählen „Baumeister des neuen Berlin“ (5. Aufl. 2001); „Auf der Suche nach der verlorenen Stadt“ (2002), beide Nicolai Verlag/Berlin; „Rudolf Fränkel, die Gartenstadt Atlantic und Berlin“, Zürich, Niggli 2006; „Modernisierung einer Ikone. Der BMW Tower in München“, Zürich, Niggli 2008; „Stadtbau. Die Stimmann-Dekade Berlin 1991-2006“ (Hrsg.), Internationale Bauakademie Berlin 2006.

Gerwin Zohlen

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