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Micha Schäfer aus dem „Nobelhart & Schmutzig“ kreiert aus hyperlokalen Zutaten ein herausragendes Menü.

© Sara Reuter/promo

Berliner Autorenköche: Aufstand der Avantgarde

Es hat sich eine Phalanx formiert gegen die klassische Gourmetküche: junge Spitzenköche, kulinarische Grenzgänger im besten Sinne. Sie suchen die Nähe zu heimischen Erzeugern – stets auf Suche nach dem bestmöglichen Produkt.

Von Kai Röger

Tim Mälzer lieferte in der letzten TV-Folge „Kitchen Impossible“ die Vorlage, als ihn der Berliner Gastronom The Duc Ngo in die „brutal lokale“ Küchenhölle des „Nobelhart & Schmutzig“ schickte: Eine „Kräutersammel-Lumpen-Nummer“, werde da geboten, „die man sich intellektuell erst erarbeiten muss“. Den Küchenchef Micha Schäfer nannte Mälzer einen „kulinarischen Grenzgänger“ und „Hipster-Koch“.

Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass Mälzer zwar ein guter Koch und feiner Kerl ist, dass er aber in der Sendung krachend scheiterte, als er den unkonventionellen Stil Schäfers kopieren sollte. Seit der Ausstrahlung dieser Serienfolge hagelt es auf Bewertungsportalen im Internet Verrisse der unfeinen Art auf das streng lokal ausgerichtete Restaurant. Das stört dort niemanden, aber es bietet doch Anlass, die Berliner „Hipster-Köche“ und was sie können, was sie vereint und was sie bewegen, einmal näher zu betrachten.

Berliner Hipster-Köche elektrisieren internationale Foodies

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren so etwas wie eine „Berliner Schule“ herauskristallisiert, die Spötter wie internationale Foodies gleichermaßen elektrisiert. Zuerst nur eine vage Strömung, die dem Modebegriff der Regionalität folgte, suchten Vorreiter wie Michael Hoffman aus dem „Margaux“ und Marco Müller aus dem „Rutz“ den Kontakt zu Erzeugern aus dem Umland, um mit ihnen eine gemüsefokussierte, echte Regionalküche zu entwickeln. Hoffmann wurde selbst zum Gärtner, Müller versuchte ein Netzwerk aufzubauen, bei dem unter anderem Matthias Gleiß („Volt“), die Frühsammers („Frühsammers Restaurant“) und Stephan Garkisch („Bieberbau“) mit von der Partie waren.

Die Initiative „Koch sucht Bauer“ kam nie so richtig in Schwung, die Köche entwickelten keine gemeinsame Linie, jeder pflegt inzwischen seine eigenen Kontakte. Die Idee, eng mit Produzenten zusammenzuarbeiten, bekam erst ihr stilprägendes Gesicht, als der frühere „Rutz“-Sommelier Billy Wagner mit Michael Schäfer besagtes „Nobelhart & Schmutzig“ eröffnete und vollmundig das Korsett einer hyperlokalen Regionalküche verkündete, die auf alles verzichtet, was nicht im unmittelbaren Umland Berlins wächst – ein Konzept, das René Redzepi mit dem „Noma“ in Kopenhagen hocherfolgreich vorlebte. Das „Nobelhart“ verkaufte es zudem mit provozierend-rotziger Attitüde.

In der Folge eröffneten zahlreiche Restaurants, die nicht mehr nur anboten, was dem Gast gefällt, sondern eine Linie verfolgten, die viele Trends miteinander vermischt: „farm to table“, „nose to tail“, japanischer Produktpurismus und skandinavische „Nova Regio“-Küche.

Gemüse-fokussiert: Sebastian Frank aus dem „Horváth“ in Kreuzberg, ausgezeichnet mit zwei Sternen im Guide Michelin und 17 Punkten im Gault&Millau.
Gemüse-fokussiert: Sebastian Frank aus dem „Horváth“ in Kreuzberg, ausgezeichnet mit zwei Sternen im Guide Michelin und 17 Punkten im Gault&Millau.

© promo

Einer, der wie kein zweiter den Ruf der Berliner Köche im Ausland als kulinarische Grenzgänger prägt, ist Sebastian Frank aus dem „Horváth“. Sein Restaurant am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer ist mit zwei Sternen im Guide Michelin und 17 Punkten im Gault&Millau ausgezeichnet. Frank ist amtierender „Berliner Meisterkoch“ und bekam gerade den Titel „bester Koch Europas“ auf der „Madridfusión“ verliehen.

Auch seine Küche ist gemüse­fokussiert, lebt von Produktqualität und handwerklichem Geschick. Und sie polarisiert: Die Spanne der Bewertungen auf gängigen Internetportalen reicht von, „wunderbar“ bis „schockierend“, von „Weltklasse“ bis „Katastrophe“. Frank lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen, nicht von der Kritik und nicht von den Auszeichnungen.

Seit Jahren feilt er unbeirrt an seinem Stil. Zuerst erinnerte noch Vieles an die Küche aus dem „Steirereck“ in Wien, in der Frank drei Jahre beschäftigt war. Aber schon bald entwickelte er eine eigene Handschrift, die sich stetig weiter von vertrauten Gefilden entfernt, ohne je den Boden des Wohlgeschmacks zu verlassen.

Sebastian Frank ist geprägt von seiner Heimatküche in Niederösterreich

Gemüse-fokussiert: Sebastian Frank aus dem „Horváth“ in Kreuzberg, ausgezeichnet mit zwei Sternen im Guide Michelin und 17 Punkten im Gault&Millau.
Gemüse-fokussiert: Sebastian Frank aus dem „Horváth“ in Kreuzberg, ausgezeichnet mit zwei Sternen im Guide Michelin und 17 Punkten im Gault&Millau.

© promo

Franks Stil basiert auf Erinnerungen an die ländlich geprägte Alltagsküche seiner Mutter und der Großmutter in Niederösterreich. Schon 2016 irritierte und begeisterte sein „oxidierter Salat“: Blattsalat vom Vortag, im Dressing über Nacht ersoffen. Aus diesem Reste-Essen formte er eine Roulade, die er mit Wasserkefir-Granité, geröstetem Linsenmehl, Zwiebel-Speckfett und Linsen-Béchamel in einen köstlichen Gang verwandelte.

Diesen Stil hat er weiter getrieben, ist mehr und mehr abgerückt von Edelprodukten, ja eigentlich von allem, was man überhaupt ein Produkt nennen würde. Dafür verwendet er Suppenfette, entsaftete und konzentrierte Gemüse- und Gewürzauszüge. Oft tauchen Hühnerhaut oder Entenfett in seinen Kreationen auf, das Fleisch des Geflügels aber nur sehr selten: „Daraus machen wir Personalessen“, sagt Frank – was man bei ihm nicht als Affront verstehen darf.

Erinnerungen bilden des Ausgangspunkt für Experimente

Der stets gut gelaunte, burschenhaft-rotwangige Küchenchef ist kein Provokateur, obwohl seine Gerichte polarisieren. Er ist kein abstrakter Künstler, auch wenn seine Herangehensweise intellektuell und konzeptuell wirken mag. Sein Stil ist emotional, seine Ausdrucksmittel liegen in seiner Biographie begründet.

„Essenz meines Lebens“ nennt er folgerichtig die jüngsten Kreationen, bei denen Erinnerungen den Ausgangspunkt für Experimente bilden. Den Fettmantel der Kalbsniere lässt er aus, bereitet daraus einen Schaum und kontert alles mit in Schweinefett zu Grieben frittierten Pilzen – im wahrsten Sinne unglaublich köstlich.

Noch prägnanter der Gruß aus der Küche, bei dem Frank mit Produkten Orte seiner Kindheit und seiner kulinarischen Wanderschaft zitiert: gerösteter Mais und Getreide aus Niederösterreich, Pilze, Wasser und Steine aus der Steiermark und Schaufelbraten, in Wien „Schulterscherzl“ genannt, den er wie „Beef Jerky“ trocknet und aromatisiert. Durch einen Cold Dripper, mit dem man eigentlich kaltgebrühten Kaffee herstellt, lässt er den Fond zuletzt durch die zerschlagenen Steine laufen ...

Typisch für Sebastian Franks Küche: vermeintlich simple Produkte wie hier die Zwiebel.
Typisch für Sebastian Franks Küche: vermeintlich simple Produkte wie hier die Zwiebel.

© promo

Sebastian Frank ist ein selbstbewusster Vorneweggeher, kein Effekthascher oder Selbstdarsteller. Er erinnert, statt verkopft zu handeln, er verweigert sich dem einfachen Weg, erfindet neue Zutaten und formt daraus intensiv schmeckende Kunstwerke. „Kreativität durch Zensur“ beschreibt er die Verwehrung edler Grundprodukte. Und hier ergibt sich dann auch das Verbindende mit den anderen, den vermeintlichen Hipster-Köchen, die das kulinarische Gesicht Berlins derzeit prägen.

Micha Schäfer aus dem „Nobelhart & Schmutzig“ ist so einer, der sich sinnbildlich eine Hand auf den Rücken bindet, um dann erst recht zur Höchstform aufzusteigen. Dylon Watson-Brawn ein anderer, der einen deutlich introvertierteren Stil in seinem Restaurant „Ernst“ pflegt: In mehr als 20 Gängen serviert er einen Reigen aus Miniaturen vermeintlich simpelster Zutaten, die in ihrer puristischen Zubereitung von nichts anderem handeln als der Perfektion, beginnend mit der Arbeit auf dem Feld bis hin zur passenden Präsentation auf stimmigem Geschirr.

Die Köche wollen selbst mehr von der Landwirtschaft verstehen

Diese jungen Köche verbindet die stetige Suche nach dem bestmöglichen Ausgangsprodukt. Dafür haben sie das verschworen klingende Netzwerk „Die Gemeinschaft“ ins Leben gerufen, um enger mit Produzenten aus der Region zusammenzuarbeiten. Es geht ihnen nicht nur darum, den Bauern zu sagen, wie deren Gemüse, Fleisch und Fisch zu einzigartigen Produkten werden. Die Köche wollen selber mehr von Landwirtschaft verstehen, um „die verloren gegangene Nähe zwischen Land, Lebensmitteln, Produzenten, Restaurants und auch zueinander wiederherzustellen“, wie es eine der fünf Gründungsthesen proklamiert. Im weiteren Dunstkreis dieser Gemeinschaft sortieren sich die anderen Akteure der Berliner Schule: Andreas Rieger aus dem „Einsunternull“, die namengebenden Betreiber des „Lode & Stijn“ sowie Jörg Förstera von ­„Kumpel und Keule“.

Andreas Rieger hat mit seiner extrem durchdachten Produktküche vom Start weg einen Michelin-Stern für das "einsunternull" erkocht.
Andreas Rieger hat mit seiner extrem durchdachten Produktküche vom Start weg einen Michelin-Stern für das "einsunternull" erkocht.

© einsunternull/promo

Der Begriff Avantgarde beschreibt im eigentlichen Sinn den Teil des Heeres, der im Gefecht vorneweg schreitet: Raubeine und schräge Gesellen, die nichts fürchten und sich von niemandem etwas vorschreiben lassen. Sie waren auf sich gestellt, wenn sie sich als Erste gegen die feindliche Front einen Weg durch die erste Schlachtreihe der Gegner bahnten.

Ähnlich eigensinnig mag es erscheinen, wie sich eine junge Garde von Köchen gegen die klassische Gourmetküche stellt, die noch immer auf erlesene Produkte weniger internationaler Feinkostzulieferer setzt – und wohl auch gegen einen Teil der Gäste, die mit einer gänzlich anderen Erwartungshaltung ein solches Avantgarde-Restaurant besuchen. Dennoch sind sie Vorkämpfer, loten Grenzen aus. Und sie haben die Chance ergriffen, etwas zu bewegen, das über den Kreis solventer Genießer hinausreichen wird.

Nun ist auch Patrick Wodni, Küchenchef im Krankenhaus Havelhöhe, mit von der Partie. Unter seiner Leitung ist bereits ein Pflanzplan mit der Bauernkooperative „Speisegut“ entstanden. Warum sollten einfache, aber qualitativ hochwertige Grundprodukte nicht auch Einzug in die Schul- und Kantinenverpflegung halten?

Demnächst wollen sich die Avantgarde-Köche mit Produzenten treffen – ohne Gäste, ohne Presse, am Lagerfeuer und zum Austausch. Es ist ein neuer Versuch, Stadt und Land zusammenzubringen und Wertschätzung zu wecken für all die Arbeit und den Willen, Lebensmittel zu verbessern. Ein Versuch, Achtsamkeit dafür zu wecken, wie alles in der Nahrungskette zusammenhängt. Genuss jenseits von Konsumption – eine sinnlich-intellektuelle Erfahrung.

Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" im gedruckten Tagesspiegel erschienen. Jeden Sonnabend servieren wir eine neue Ausgabe. Mehr über gutes Essen, Trinken und Kochen in Berlin lesen Sie jederzeit auch online auf unserer Themenseite.

Essen bei Nonkonformisten - acht Empfehlungen

Horváth: Sebastian Frank ist einer der innovativsten Köche Deutschlands – was sich nicht nur auf sein unumstößliches Menü in fünf bis neun Gängen bezieht, sondern auch die alkoholfreie Getränkebegleitung umfasst, die kongenial seine Kreationen um weitere Facetten ergänzt. Kreuzberg, Paul-Lincke-Ufer 44a, restaurant-horvath.de

Nobelhart & Schmutzig: Hyperlokale Küche in zehn unumstößlichen Gängen. Irritierend simpel präsentiert, aber geschmacklich stets auf den Punkt. Der Gast sitzt der offenen Küche zugewendet und wird auf eine deliriös-delikate Reise geschickt. Kreuzberg, Friedrichstr. 218, nobelhartundschmutzig.com

Ernst: Dylan Watson-Brawn und sein Team servieren ein Menü für nur zwölf Gäste pro Abend: sehr speziell, aber der japanisch inspirierte Produktpurismus in mehr als 20 Gängen ist ein nachwirkendes Erlebnis – wenn man die Erwartungshaltung an ein klassisches Dinner hinter sich lässt. Wedding, Gerichtstr. 54, ernstberlin.de

Einsunternull: Küchenchef Andreas Rieger besitzt eine kompromisslose Handschrift, mit der er aus scheinbar einfachsten Zutaten mit hoher Handwerkskunst ­inspirierende Kreationen schafft – sympathisch moderiert von Gastgeber Ivo Ebert und günstig zum Lunch frei aus dem Menü wählbar. Mitte, Hannoversche Str. 1, restaurant-einsunternull.de

Lode & Stijn: Sagenhaft gutes Brot und ein paar Snacks vorneweg und dann ein unveränderbarer Reigen aus Tatar, Gemüse, Fisch, Fleisch und Dessert, der für weniger als 60 Euro feinjustiert und unterhaltsam einen unkomplizierten Abend mit Stilbewusstsein und Niveau begleitet. Kreuzberg, Lausitzer Str. 25, lode-stijn.de

Gärtnerei: Zwischen opulenten Blumengestecken, schickem Design und auf Sitzlandschaften platziert, genießt man hier die Freiheit, entweder das Menü oder à la carte zu bestellen: gemüselastig mit ausgezeichneten Produkten und unverkopft zubreitet. Gute Cocktailauswahl an der Bar. Mitte, Torstr. 179, gaertnerei-berlin.com

Rutz: Ob im Gourmetrestaurant im ersten Stock oder bodenständiger in der Weinbar darunter: Marco Müllers Handschrift bleibt unverkennbar. Beste Produkte, immer überraschend in Szene gesetzt und mit dem Aromenturbo auf Wohlgeschmack getrimmt. Sehr gute Weinauswahl. Mitte, Chausseestr. 8, rutz-restaurant.de

Zum Mond: Von außen Kreuzberger Eckkneipe, im Inneren gemütliche Gastwirtschaft. Und genauso unprätentiös wie das Ambiente präsentiert sich die Küche: regionale Produkte, geschmackvoll und ohne Schnörkel zubereitet – und das auf ebenso bodenständigem Preisniveau. Kreuzberg, Köpenicker Str. 159, zummond.berlin

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