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Scholle Finkenwerder Art - Der Klassiker als scheuklappenfreies Aromenspektakel à la Tim Raue

© Ben Fuchs

Titel: Neue Deutsche Küche

Modernisierte Klassiker, Rückbesinnung auf die Region, Wiederbelebung traditioneller Kochtechniken - drei Positionen

La Soupe Populaire

Tim Raue und Michael Jaeger haben klassisch-deutsche Gerichte nicht neu erfunden, sondern zeitgemäß perfektioniert

Ich bin im Berlin vor der Wiedervereinigung groß geworden. Unter deutscher Küche verstehe ich das, was meine Großmutter damals für mich ­kochte, echtes Essen: Saure Eier, Senfeier, Bratwurst und Schweinskopfsülze - alles selbst gemacht. Es war einfach angerichtet, sie verwendete keine teuren Produkte und alles war easy accessible, das heißt: ein Löffel und man verstand, was man aß.

Als wir vor drei Jahren angefangen haben, das Konzept für das „La Soupe Populaire“ zu entwickeln, wollten wir nicht sentimental in die Küche meiner Kindheit zurückschauen. Das hätten wir auch gar nicht gekonnt, weil viele unserer Gäste die Historie der Gerichte gar nicht kennen. Damit sie auch bei unserer internationalen Klientel funktionieren, müssen die Gerichte einfach extrem gut schmecken und man muss sie sofort begreifen können. Diese Verständlichkeit ist für mich ein ganz wichtiger Faktor. Unsere deutschen Klassiker sollen dich umarmen, nicht kulturell oder künstlerisch herausfordern. Ich habe kein Interesse, die Klassiker völlig neu zu interpretieren und zum Beispiel eine Schwarzwurzel zu fermentieren, danach anzukokeln und dann mit Sauerampfersalat zu servieren. Das hat für mich nichts mit Deutschland zu tun, dazu sind meine Wurzeln viel zu burschikos, zu Deutsch im übertragenen Sinne. Ich will die Gerichte so lassen, wie sie gedacht waren, aber sie mit den Möglichkeiten kochen, die mir heute zur Verfügung stehen. Manchmal wird es vielleicht ein bisschen abstrakter, beim Handkäs mit Musik zum Beispiel, da hab ich gesagt, das ist so brutal, da können wir nichts Schönes draus machen. Also haben wir aus dem Handkäs ein Mus und aus dem Kümmel ein Cracker gemacht. Die Säure kommt dann von einer Vinaigrette. Aber in der Regel müssen wir gar nicht viel verändern: Den Strammen Max zum Beispiel, den gab es in meiner Kindheit, wir machen den aber jetzt mit hervorragendem Schwarzbrot, dem besten Schinken und den besten Eiern. Bei der Scholle Finkenwerder Art haben wir uns auch keine Gedanken darüber gemacht, in welche Textur oder Struktur wir sie bringen wollen, sondern wie wir sie verbessern können. Am einfachsten ist das bei den Senfeiern zu sehen, die wir so schon seit 1998 zubereiten. Wir haben erst einmal versucht, das Ei perfekt zu garen - eben wachsweich - und die Kartoffeln nicht als fettes Püree sondern als leichten Schaum darzustellen. Dann mussten wir die Rote Bete integrieren, aber nach meiner Art, aromatisiert mit Essig, Johannisbeergelee und Jalapenos, geadelt mit einem Viertel Löffel Kaviar. Das ergibt ein süffiges, leicht eingängiges, von Säure, Süße und einem Hauch Schärfe geprägtes Gericht.

Unsere Interpretationen deutscher Klassiker müssen eins können: Wenn man davon mit geschlossenen Augen einen Löffel isst, muss man das Gericht erkennen. Rezept Scholle Finkenwerder Art.

Prenzlauer Berg, Prenzlauer Allee 242, Tel. 44 31 96 80, lasoupepopulaire.de

Nobelhart & Schmutzig

Micha Schäfer und Billy Wagner inszenieren die Einzigartigkeit eines Produktes und kreieren damit eine neue Sinnlichkeit beim Essen

Das Problem ist: Deutschland hat keine einheitliche kulinarische Identität, die deutsche Küche besteht aus vielen Regionalküchen, die aus einer Zeit stammen, in der die Versorgung der Bevölkerung jeder selber in der Hand hatte. Daraus ist eine aus Verzicht und Mangel geborene rustikale Küche entstanden. Heute sind die meisten Produkte interna­tionalisiert, hochtechnisiert, filtriert, gereinigt, homogenisiert, dazu immer und überall verfügbar, austauschbar. Woher die Produkte kommen und wer sie gemacht hat, spielt keine Rolle mehr. Wenn aber alles immer verfügbar ist, ist es nichts Besonderes mehr, ­Bananen, Steinbutt und Rinderfilet zu essen. Es ist völlig logisch, dass der amerikanische „Playboy“ auf nackte Brüste im Heft verzichtet, weil wir nur einen Klick von Sex entfernt leben. Dinge im Überfluss werden beliebig, sie verlieren ihren Wert.

KOHLRABI - Brutal puristisches Bekenntnis zur Region  - und doch überraschend fein im Geschmack, Rezeptlink
KOHLRABI - Brutal puristisches Bekenntnis zur Region  - und doch überraschend fein im Geschmack, Rezeptlink

© Marko Seifert

Im Nobelhart & Schmutzig versuchen wir, diesen Weg zurückzugehen und schauen, was heute wirklich noch von hier kommt: Wo werden denn zum Beispiel Erbsen oder Linsen in der Region angebaut? Diese Produkte gibt es praktisch nicht mehr, sind einzigartig. Wir müssen sie nicht mehr künstlich aufwerten, sondern können uns auf den reinen Produktgeschmack fokussieren.

Dabei geht es uns also nicht darum, die Gerichte von früher neu zu interpretieren. Auch wollen wir nicht, wie Micha Schäfer es in der „Villa Merton“ erlebt hat, die deutsche Küche mit wahnsinnig viel Arbeit und Technikeinsatz überhöhen. Dekonstruktion und Rekonstruktion, die Gerichte in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen und sie wieder neu zusammenzusetzen - das ist uns zu detailverliebt, zu verkopft und verkünstelt. Zu Deutsch: Wir kochen nicht technisch, sondern ­legen den Fokus auf Beziehungen: zu Produzenten, zu anderen Köchen und zum Gast. Eine Hotelküche hat zum Beispiel maximal sechs Zulieferer, wir arbeiten inzwischen mit einem Netzwerk aus ungefähr 45 Produzenten, mit denen wir in engem Kontakt stehen.

Der Bezug zwischen Produzent und Esser ist verloren gegangen, seit der Einzelhandel die Grundversorgung übernommen hat. Wir wollen diesen Bezug wiederherstellen, die Geschichte des Produktes und des Produzenten erzählen. Und lassen auch Produkte eigens für unsere Küche anbauen. Das müssen wir kommunizieren. Es ist wie mit moderner Kunst, da gibt es auch immer einige, die sagen: Das kann doch jeder! Da ist ja gar nichts dran gemacht, da fehlt die Technik. Aber andere sehen die Größe dahinter. Oft braucht es eine Moderation, die erklärt, warum etwas besonders ist. Dadurch, dass der Gast in unserer Küche an der Theke sitzt, schaffen wir die Nähe, um erklären zu können, warum es etwas Besonderes ist, zum Beispiel gerade diesen Kohlrabi zu essen. Rezept Kohlrabi.

Kreuzberg, Friedrichstraße 218, Tel. 25 94 06 10, nobelhartundschmutzig.com

Gaisberger Marsch und Bärlauch-Spätzle - Klassiker neu belebt durch Handwerkskunst und Produktverständnis, Rezeptlink
Gaisberger Marsch und Bärlauch-Spätzle - Klassiker neu belebt durch Handwerkskunst und Produktverständnis, Rezeptlink

© Ben Fuchs

Herz & Niere

Michael Köhle und Christoph Hauser werten deutsche Klassiker durch traditionelle Techniken und dem Gebot der Nachhaltigkeit auf

Wir kommen beide aus Süddeutschland, ­aus sehr traditionellen Gegenden, in der es noch eine lebendige Regionalküche gibt. Von Kindesbeinen an haben wir diese Küche erleben können, Michaels Eltern hatten ein Wirtshaus, für Christoph war die Sonntagsküche seiner Mutter prägend: Linseneintopf, Maultaschen - alles wurde noch selbst gemacht.

In der deutschen Küche ist vieles aus der Not entstanden. Daraus sind trotzdem viele großartige Gerichte hervorgegangen, weil sie einfach gut gemacht waren. Wir schauen deshalb immer zuerst, wie etwas traditionell gekocht wurde, versuchen dann aber, das Potenzial eines Produktes weiter auszuschöpfen. Einen Linseneintopf machen wir zum Beispiel mit selbstgemachten Bratwürsten, die mit Wild und Innereien gefüllt und rosa gebraten werden. Wenn man gute Produkte verwendet, werden die in der Not geborenen Klassiker aufgewertet und es entsteht etwas Hochwertiges. Und es kommt noch ein gewisser Überraschungseffekt hinzu, wenn etwas Altbekanntes plötzlich neu und einfach nur gut schmeckt.

Wir sind aber keine Produktfetischisten, uns geht es darum, aus einem guten Produkt ein tolles Gericht zu machen: nichts Aufgesetztes, nichts Abstraktes, nichts Rekonstruiertes, sondern etwas klar Erkennbares, das schmeckt. Ein Eintopf ist bei uns immer ein Eintopf, aber auch das kann einen Wert haben. Wenn es mal kein Rückenstück, sondern nur Schulter gibt, oder wenn wir eine tolle Rote Bete oder einen Hasenrücken bekommen, dann versuchen wir uns zu erinnern, wie wir das früher schon mal gegessen haben, wir diskutieren und überlegen, mit welchen traditionellen Techniken man das Produkt aufwerten kann.

Dabei ist uns das Thema Nachhaltigkeit sehr wichtig, nicht das Bio-Siegel, sondern die Rückbesinnung auf die Art des Umgangs mit Produkten, die wir früher gelernt haben. Wir suchen zum Beispiel die Tiere vor der Schlachtung aus und verwerten sie immer ganz. Dieser „Nose to tail“-Ansatz ist gerade Trend, für uns ist es eine eigene Qualität, respektvoll mit Produkten umzugehen. Dazu gehört auch die künstliche Not­situation, beim Bauern nur das zu kaufen, was er gerade hat. Inzwischen haben wir sogar selbst einen Acker. Um aber alles selbst produzieren zu können, müssen wir die Saison verlängern und viel einwecken. Die alten Techniken helfen uns dabei, eine große Auswahl anbieten zu können und gleichzeitig authentisch zu bleiben. Rezept Gaisburger Marsch mit Bärlauchspätzle.

Kreuzberg, Fichtestraße 31, Tel. 69 00 15 22, herzundniere.berlin

Die besten Adressen für zeitgenössische Regionalküche

Einsunternull

Der Name ist Programm: Mittags wird im Erdgeschoss, abends im Keller getafelt. Andreas Rieger geht ständig ans Eingemachte, kocht zugespitzt regional mit vegetarischem Akzent. Und Patron Ivo Ebert berät souverän und freut sich mit den Gästen über die äußerst geschmack- und wertvolle Einrichtung. Originelles Weinangebot mit „Naturwein“-Prägung.

Mitte, Hannoversche Straße 1, Tel. 27 57 78 10, einsunternull.com

Gendarmerie

In echten Weltstädten wäre dieses riesige, stilvolle Lokal eine von den Gästen belagerte Institution - Berlin arbeitet noch dran. Die neuen Wirte versuchen es mit einem Brasserie-Konzept mit deutschem Einschlag - auch Currywurst und Königsberger Klopse sind zu haben, Wiener Schnitzel sowieso.

Mitte, Behrenstraße 42, Tel. 76 77 52 70, restaurant-gendarmerie.de

Hotel am Steinplatz

Das kleine, feine Boutique-Hotel in Charlottenburg leistet sich ein beachtliches Restaurant, in dem Küchenchef Marcus Zimmer die deutsche Küche nicht über die Klassiker aufbaut, sondern in erster Linie von den Produkten her interpretiert. Der Stil ist dezent kreativ, der Charakter bleibt aber stets bodenständig. Sehr beliebter, preisgünstiger Mittagstisch.

Charlottenburg, Steinplatz 4, Tel. 554 44 40, hotelsteinplatz.com

Tucholsky´s

Im schlimmen Plattenbau an der umtosten Torstraße steckt eine überraschend stilvolle Einrichtung. Der Namen wurde zwar in erster Linie wegen der nach ihm benannten Straße gegenüber gewählt, aber ihm hätte diese traditionsverbundene, bodenständige, aber aufgeklärte Küche sicher gut gefallen - auf der Karte stehen alle Klassiker seit Großmutters Zeiten.

Mitte, Torstraße 189, Tel. 27 58 20 53, restauration-tucholsky.de

Weinstein

Schon kurz nach der Wende etablierten die weinverrückten Metzdorf-Brüder diese bescheidene Schenke. Ihre Küche hat süddeutsche und österreichische Wurzeln, setzt aber zunehmend auf gute regionale Produkte wie Wurst, Schinken und Käse in Szene. Allein der enorme Weinkeller lohnt den Besuch.

Prenzlauer Berg, Lychener Straße 33, Tel. 441 18 42, weinstein.eu

Mehr zum Thema gut Essen, Trinken & Kochen in Berlin finden Sie im Magazin "Tagesspiegel Genuss".

aufgezeichnet von Kai Röger

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