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Essen & Trinken: Maulhelden

Die Invasion der Schwaben in Berlin nimmt kein Ende: Zuerst war die Flucht vor der Bundeswehr, dann besetzten sie in Kreuzberg Häuser. Nun tauchen überall ihre Maultaschen auf. Alles über das genialste Essen für die Fastenzeit.

Die Wahrheit ist manchmal nicht sehr hübsch anzuschauen, denn: „Maultaschen schwimmen wie Wasserleichen in der Fleischbrühe.“ Sie sind (im Idealfall) blass, runzelig und ein wenig aufgedunsen. Man könnte diese Beschreibung für die Denunziation des schwäbischen Brauchtums durch nordische Neider halten, doch der Satz mit der Wasserleiche stammt von Thaddäus Troll, dem 1980 gestorbenen Schriftsteller und unumstrittenen Deuter der schwäbischen Seele.

Demnach ist die Maultasche dem schwäbischen Charakter wesensgleich. „In einem unliebenswürdigen Gewand verbirgt sich ein delikater Kern.“ Es zeigt sich in dieser etwas pietistischen Haltung ein grundsätzlicher Schlag ins Understatement; wer etwa im Stuttgarter Raum einen Daimler ohne Typenschild am Kofferraum sieht, kann davon ausgehen, dass es sich um ein hochmotorisiertes Luxusmodell handelt, mit dem der Besitzer nicht auffallen möchte.

Jedenfalls ist die Maultasche ihrer südlichen Heimat längst entwichen. Sie ist in die Welt hinausgetragen durch die Wanderlust der Aborigines vom Neckar und ihrem kulinarischen Missionseifer. Gerade schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ über den geschmacklichen Aufschwung der deutschen Hauptstadt: „Die wahre Königin Berlins ist zurzeit die Maultasche.“

DIE GESCHICHTE

Ihre Herkunft liegt im Ungewissen. Die netteste Legende spielt im Kloster Maulbronn, das von Zisterziensern im Jahr 1147 gegründet wurde. Dort kamen Mönche während des Dreißigjährigen Krieges auf wenig durchsichtige Weise an ein prächtiges Stück Fleisch, unseligerweise auch noch in der Fastenzeit. Sie hackten es klein, mischten es mit Gartenkräutern und Spinat, um der Mischung eine vegetarische Patina zu geben und schlugen kleinere Portionen davon in einen Nudelteig, um den Betrug vollendet zu tarnen.

Der Bärtige im Himmel soll dem mönchischen Treiben mit Wohlgefallen zugesehen haben, weshalb der gefüllte Täuschungsbeutel auch „Herrgottsb’scheißerle“ genannt wird. Ihn an Gründonnerstag und Karfreitag zu essen, ist quasi ein sakraler Akt. So also könnte der Name entstanden sein: Maulbronner Teigtasche oder Maultasche. Dieser geradezu christosche Verpackungstrick ist so raffiniert wie der kirchliche Grundsatz „Flüssiges bricht das Fasten nicht“, wonach sich die Frommen zwischen Aschermittwoch und Ostern reichlich Starkbier einpfeifen.

Legende Nummer zwei behauptet, die Gräfin Margarete Maultasch (1318–1369) sei Namensgeberin. Die Dame hieß eigentlich Margarete von Tirol, erst nach sarkozyähnlichem Ehehändel wurde ihr die Maultasch angeklebt, womit sie als liederliches Weib gebrandmarkt werden sollte. Soweit die jüngere feministische Geschichtsschreibung. Auf ihr beharrt der Kurort Bad Urach, der sogar einen „Maultaschen-Weg“ eingerichtet hat.

Kulturhistorisch viel wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine Speise mit Migrationshintergrund handelt. Schwaben war Besatzungs- und Durchgangsland. Die Maultasche wird wohl über die Handelswege aus China (Marco Polo) und Arabien (Friedrich II.) nach Italien und von dort über die Alpen gewandert sein.

DIE VERWANDTEN

In China ist sie Wan Tan und Jiaozi, in Italien Ravioli und in Japan Gioza, polnisch wird sie zu Piroggi und russisch Pelmeni, in Israel ist sie Kreplachs und Österreich kennt Schlickkrapfen; im Englischen heißt die Maultasche Swabian Pockets und in Frankreich les Maultaschen de la Souabe. Wer will, kann auch die Empanada unter die gefüllten Beutel einreihen.

DER KLASSIKER

Es ist nicht einfach, die richtige Zubereitung von Maultaschen zu erklären, ohne sofort Stammeskriege und Familienstreit heraufzubeschwören. Es gibt so viele Varianten wie Köche und Hausfrauen. Und schon für die Form – quadratisch, rechteckig – gibt es keine architektonische DIN-Norm.

Vielleicht lässt sich wenigstens die Urmasse definieren: Hackfleisch, Zwiebeln, Spinat, Kräuter. Nun aber geht es schon los, soll es Schweinefleisch sein (ja!) oder Gehacktes vom Kalb (für Diätheinis), soll Räucherspeck den Aromenschub geben (ja!) oder geht auch ein Landjäger als Geschmacksturbo (warum nicht), sind Ei und in Milch eingeweichtes Brötchen ein Muss (ja!, das macht die Pampe locker)... Ist Majoran erlaubt? Geht so. Bratwurstbrät? Bitteschön. Pfeffer, Salz und Muskat? Sind Pflicht. Lauch oder Schluppen? Beides wer mag, sie sorgen für würzigen Speed. Und in welchem Verhältnis sollte das Ganze gemischt werden? Das könnten nur Küchenstalinisten endgültig klären, und wer will schon mit denen essen. Es gilt in dieser Frage knallhart die Parole der Aufklärung: Bürger, folge deiner Zunge!

Klar ist lediglich, dass die Maultasche ursprünglich ein Resteessen war, getreu dem schwäbischen Motto „Bei ons v’rkommt nix“ (sinngemäß: Wir werfen nichts weg). Was an Braten übrig blieb, wurde durch den Wolf gedreht und der Weiterverwertung zugeführt. Es handelt sich also bei der Maultasche, philosophisch gesprochen, um die Veredelung des Profanen durch Metamorphose.

Was die Arten der Zubereitung angeht, so trete nun in den Zeugenstand der Chronist Troll, Thaddäus: Er legt die Maultaschen erst mal in die Brühe (siehe oben, Stichwort Wasserleiche), „oder sie werden, mit Eiern überzogen, im Ofen gebacken. Oder mit braunen Zwiebeln überschmälzt von Schmalz = Fett; Anmerk. d. Autors] als blasse Wesen einem fahlen Kartoffelsalat beigelegt. Oder in Streifen geschnitten und in der Pfanne aufgebacken zu grünem Salat serviert“. Dies sind die vier klassischen Varianten, alles andere, spricht Troll, ist des Teufels.

Vielleicht ist dies der richtige Moment, das grundsätzliche Verständnis der Schwaben zur Nahrung zu klären. Der Schwabe gilt als Nassesser. Er verwandelt den Teller gern in ein ausgedehntes Feuchtgebiet. Als sogenannter „Sößlesschwob“ flutet er nicht nur Fleisch und Spätzle gern mit reichlich Sauce. Soziologen würden von einem „amphibiösen Konnex“ reden, will sagen: Das Futter muss schwimmen.

Da kommt die Nudeltasche in der Brühe gerade recht, und wo der Schwabe die trockene Variante serviert, legt er Salat bei, am besten Kartoffelsalat, der durch Essig, Öl und Brühe „schlonzig“ gemacht wurde; gemeint ist eine sanft durch die Gurgel flutschende Konsistenz. Die perverse Neigung des Nassessers findet ihre höchste Lust darin, den Kartoffelsalat zur Maultasche in die Fleischbrühe zu kippen, man sagt „ei’g’schwemd“ (hochdeutsch: eingeschwemmt; ein Begriff, welcher der Nautik entlehnt scheint).

DER REKORD

Im Jahr 2000 erwickelten 60 Köche in Baiersbronn einen Rekord: 1005,75 Meter lang war ihre Maultasche. Vier Jahre später schlugen die Herrenberger mit 1622 Metern kräftig zurück.

DER TREND

Es gibt sie inzwischen gefüllt mit Bärlauch und Hummer, mit Lachs und Shiitakepilzen, mit Schnecken und Hirse, mit Rucola und Kürbis, mit Spargel und Zander ... Sie nennen sie Maultaschen, trotz alledem. Sie sollten sie besser „Lafersack“ nennen oder „Biolekis“, es ginge auch „Mälzerbeutel“ oder „Kerner’s Beste“ – doch dies sei ein für alle Mal in die Welt trompetet: Der Zeitgeist hat in einer Maultasche nichts verloren!

Huch, jetzt sind aber alle ein bisschen erschrocken, ja? Und die Vegetarier fragen scheu: Dürfen wir denn das Fleisch ... Doch, doch, sie dürfen das Gehackte weglassen, dafür den Anteil an Lauch und Spinat erhöhen und mit einer dicken Bechamel anreichern. Das wär’s dann schon.

Es gibt nämlich, um es mal mit dem Innenminister zu sagen, ein gewaltiges Fahndungsdefizit in Sachen Maultaschenfrevel. Man zählte während der rot-grünen Regierung in einem einzigen Jahr 2197 Gesetze mit 46 779 Einzelvorschriften, dazu 3131 Rechtsverordnungen mit 39 197 Einzelvorschriften – und nichts davon stellt die Verunglimpfung oder Misshandlung der Maultasche durch TV- oder Trendköche unter Strafe.

Die Idee von Wolfgang Schäuble, deutsche Küchen grundsätzlich mit Überwachungskameras zu bestücken, tönt da gar nicht so abwegig. Sonst dauert es nicht mehr lange bis zur „Maultasche Hawaii“.

DIE POLITIK

Erinnert sich noch jemand an Lothar Späth? Diesen alerten Brummkreisel, der in Stuttgart wegen einer „Traumschiff-Affäre“ aus dem Amt des Ministerpräsidenten kippte? Es trafen sich damals über Jahre Politiker und Unternehmer zum mafiösen Strippenziehen, neudeutsch: contacting. Serviert wurden dabei stets Maultaschen, weshalb der später gerichtsnotorische Skandal als „Maultaschen-Connection“ in die Geschichte einging.

DER TEST

Die gekaufte Auswahl war rein zufällig, nur die Teilnehmer waren streng nach Herkunft ausgesucht. Die klare These gleich vorweg: Die frisch hergestellte Maultasche ist der abgepackten um Lichtjahre voraus; eigentlich haben sie überhaupt nichts miteinander zu tun.

Wie aber hat die perfekte Maultasche zu sein? Der Teig dünn, aber mit Biss. Die Füllung locker gemischt, mit einer erkennbaren Struktur der einzelnen Zutaten. Der Geschmack kräftig aus Fleisch, Gemüse und Würze. Dies alles lassen die industriell gefertigen Maultaschen vermissen, egal zu welchem Preis. Die Fülle ist bei ihnen zu einem feinen Brei zermahlen, der beim Erhitzen zu einer grünlichen Wurstmasse verklebt, deren einzelne Bestandteile auch von einem Pathologen nicht zu analysieren wären, da und dort stören sogar Glutamat und Konservierungsstoffe.

Für die Frische gibt es keinen Ersatz.

Maultaschen Manufaktur, Lützowstraße 22, je Kilo 14 Euro. Das Lokal verkauft außer Haus, täglich frisch. 99 von 100 Punkten, besser geht’s kaum.

Zahner (im KaDeWe), Kilo ca. 21 Euro. Gummiartige Füllung, diätmild.

Meister (im Maultäschle, Charlottenstraße 79/80), Kilo 11,50 Euro. Homogen wie Fleischkäse, geschmacklich: na ja.

Zimmermann (im KaDeWe), Kilo ca. 9 Euro. Brühwürfeliges Aroma, dafür etwas gröber gewolft, nicht so breiig.

Pasta Nuova (in der LPG Obentrautstraße), Kilo ca. 12 Euro. Unappetitlich trockener Papp, der an Hundekekse erinnert und die Bio-Idee nachhaltig diskreditiert.

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