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Eine Unterrichtsstunde an der „Università degli Studi di Gastronomiche“ in Piemont.

© promo

Gastronomie: Die Schule des guten Geschmacks

Die weltweit aktive Slow-Food-Bewegung hat bei Turin eine Universität gegründet. Die Studenten verkosten Öl und Stinkerkäse und büffeln Marketing. Ein Besuch.

Fünfundzwanzig Kabinen stehen in einer langen Reihe. In jeder ist ein kleiner Arbeitsplatz aufgebaut: Monitor, Tastatur, Waschbecken mit einem winzigen Duschkopf – zum Mundausspülen. Hier lernen Studenten, Essen zu erkennen. Wie es aussieht, wie es riecht, wie es sich auf der Zunge anfühlt. Durch eine Klappe werden Proben in Glasschalen gereicht. Mal einen Tag lang nur Parmesan. Oder Olivenöl. Dann wird in den Kabinen blaues Licht eingeschaltet, damit die Farbe des Öls nicht den Geschmackssinn täuscht. Die Studenten lernen, dass Kaffee „alkalisch“ schmecken kann und Rotwein nach „Rasenschnitt“ – eine eigene Sprache für jedes Lebensmittel.

Das sensorische Labor gehört zu einer Uni, in der sich alles um Genuss dreht. Die „Universität der Gastronomischen Wissenschaften“ liegt 60 Kilometer südlich von Turin in den Hügeln des Piemont, wo es gern etwas diesig ist und zwischen weiten Feldern hohe Pappeln im Wind rascheln. Im Dörfchen Pollenzo residiert die Uni in einem neugotischen Castello mit kleinen Backsteintürmen. Früher ließen die Könige von Savoyen hier Vieh, Getreide und Wein produzieren. Auch das Umland könnte kaum passender sein: Die berühmten Weine Barolo und Barbaresco stammen aus der Region, in den Höhenlagen ab 400 Metern wachsen die zarten Piemonteser Haselnüsse, im Herbst wird Trüffel geerntet.

Die internationale Slow-Food-Bewegung hat im nahen Städtchen Bra ihr Hauptquartier. Sie wirbt seit gut 20 Jahren für einen bewussteren Umgang mit dem Thema Ernährung: Essen soll sich wieder an der regionalen Kultur und am saisonalen Angebot orientieren. Der umtriebige Gründer Carlo Petrini hatte auch die Idee für die Lehranstalt; 2004 öffnete die „Università degli Studi di Scienze Gastronomiche“.

Heute lernen an der Uni mehr als 300 Studenten aus aller Welt in einem Bachelor- und zwei weiterführenden Studiengängen. „Ich habe hier viel kennengelernt: Wie ich ein Produkt anbaue, was es ist und bedeutet, und wie ich es vermarkte“, sagt Katharina Zahn, 25, während aus dem Kaffeeautomaten im ersten Stock dampfend Cappuccino tröpfelt.

Die junge Frau mit dem glatten braunen Haar ist eine der vielen Deutschen hier. Nach den Italienern stellen sie die größte Gruppe. Zahn arbeitet an ihrer Bachelorarbeit über den pflanzlichen Süßstoff Stevia. Dazu lässt sie Probanden gesüßten Eistee und Waldfruchtjoghurt probieren und erforscht, wie Stevia im Vergleich mit Zucker ankommt. Süßspeisen sind Zahns Fachgebiet, sie hat in Köln schon eine Ausbildung zur Konditorin gemacht.

Das historische Landgut in Pollenzo wurde vollständig saniert. Die Studenten sitzen in Unterrichtsräumen mit geschwungenem Gewölbe. Auf dem Stundenplan stehen neben den Grundlagen der Nahrungsproduktion, Lebensmittelchemie und Marketing auch exotische Inhalte. „Unsere Studenten müssen Experten in vielen Bereichen sein“, sagt Professor Andrea Pieroni, runde Brille, Dreitagebart. Pieroni unterrichtet Ethnobotanik, die Wissenschaft von der Pflanzennutzung in unterschiedlichen Kulturen. Er kann mit wirbelnden Händen von albanischen Bauern und den Heilpflanzen kleiner Alpentäler erzählen. „Essen ist immer auch ein soziales Phänomen“, sagt Pieroni. „Selbst in armen Ländern gibt es vielfältige Formen von Ernährung – wertvolles Wissen, das wir sichern wollen.“

Die künftigen Essensexperten lernen auch Kulturanthropologie und Soziologie. Im Regal mit neuen Büchern in der Bibliothek steht ein Band über die Geschichte des Olivenbaums neben einer Abhandlung über Rassismus.

Für alle Studenten verpflichtend ist ein Italienischkurs, obwohl das Studium größtenteils auf Englisch abläuft. Die Gespräche der Studenten sowieso. Vertreter von mehr als 60 Nationalitäten haben die Uni inzwischen absolviert. Abends träfe man sich oft mit seinen Kommilitonen, um gemeinsam Gerichte aus den jeweiligen Heimatländern zu kochen, sagt Zahn.

Höhepunkte des Studiums sind Besuche bei Produzenten auf der ganzen Welt. 15 Reisen, „Stages“ genannt, stehen in drei Jahren Bachelor an. Bestimmte Produkte oder kulinarische Regionen werden vor Ort erkundet, die meisten in Italien. Die Studenten fahren zu Olivenölproduzenten in Ligurien oder sprechen mit sizilianischen Fischern über Sardinen und die Probleme der Überfischung. Olivia Grant, 21, absolviert ihr erstes Jahr an der Uni und hat gerade Käseproduzenten in der Region Trentino besucht. Jetzt stellt die blonde Kanadierin die Spezialitäten bei Führungen auf dem Salone del Gusto vor, der großen Lebensmittelmesse der Slow-Food-Bewegung in Turin. „Dieser pikante Käse ist Puzzone“, sagt Grant und reicht ein Tablett mit blassgelben Würfeln herum. „Das heißt ,Stinker’. Er stinkt wirklich enorm.“ Die Gäste schnuppern, rümpfen die Nasen und stecken die Käsehappen in den Mund. Derweil berichtet Grant, dass der Puzzone mindestens 60 Tage in Holzregalen reift und auch deshalb so müffelt, weil die Laibe zweimal täglich mit einem nassen Tuch abgerieben werden. Grant weiß auch, dass die Produzenten ausschließlich flüssiges Naturlab in ihre Bergmilch kippen und sich auf Ladinisch – so bezeichnet man eine Gruppe romanischer Dialekte, die in oberitalienischen Alpentälern gesprochen werden – unterhalten. Sie hat sie von morgens bis abends begleitet.

Im Auslandsbüro der Uni hängt eine große Weltkarte. Bunte Stecknadeln zeigen, an welche Orte die Uni Studenten geschickt hat. Alle Kontinente sind markiert. Katharina Zahn war unter anderem in Mexiko und in Marokko. „Ich habe im Dschungel bei der Vanille-Ernte zugeschaut und selbst Brot im Wüstensand gebacken“, sagt sie. „Wir wollen immer die lokalen Anbau- und Essenstraditionen kennenlernen.“ Andere Studenten stapften durch japanische Reisfelder oder studierten den Kartoffelanbau in den peruanischen Anden.

So viel Praxis hat ihren Preis. Das Bachelorstudium kostet 13 500 Euro pro Jahr, für den Master sind 16 000 Euro fällig. Die Universität ist offiziell anerkannt, erhält aber keine Unterstützung vom italienischen Staat. Die Träger sind die Regionen Piemont und Emilia-Romagna. Darüber hinaus lebt die Uni von privaten Sponsoren.

Viele Absolventen gründen eigene Betriebe. In der Alumnigalerie auf der Website der Uni finden sich selbstständige Bierhändler und Wodkaproduzenten. Andere werden Sommeliers oder arbeiten im Marketing von großen Lebensmittelkonzernen. Oder sie reisen weiter umher auf der Suche nach den besten und authentischsten Produkten – so wie Theresa Malec. Die 29-Jährige aus München hat nach ihrem Studium bei einem Fachhändler für hochwertige Haushaltswaren angefangen. Sie ist dort für den Lebensmitteleinkauf zuständig, besucht Käsereien, Weingüter und Landwirte in ganz Europa. Viele kennt sie noch aus ihrem Studium.

Malec kann von ihren Produkten schwärmen, vom Geschmack ihres bevorzugten Pecorino und den besonders saftigen Tomaten eines Bauern direkt an den Hängen des Vesuvs. „Es ist genau der Job, den ich wollte“, sagt sie. Auch privat kommt sie am Thema nicht vorbei, ihr Freund hat mit ihr in Pollenzo studiert. Jetzt leitet er in Berlin sein eigenes Reiseunternehmen und organisiert Genusstouren in die kulinarischen Zentren Europas.

Die Uni ist bemüht, ihr Angebot weiter auszubauen. Das neueste Projekt zielt auf das kulinarische Herz des Instituts: Die kleine Mensa neben der Kirche von Pollenzo. Ausgerechnet hier servierte ein Fremdanbieter den zukünftigen Essensexperten bis vor Kurzem nur mittelmäßige Kost. Zu schwer, zu uninspiriert sei das Angebot gewesen, klagten die Studenten. Nun haben ein paar von ihnen den Betrieb selbst übernommen. Unter dem Motto „Didactic Lunch Experience“ wollen sie demnächst Köche einladen, je eine Woche in ihrer Mensa zu zaubern – Sterneköche, versteht sich.

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