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Schlemmen wie die Franzosen.

© Natascha Morokhova

Gesunde Ernährung: Sorge dich nicht, iss!

Zum Jahresanfang hungern, ist der Einstieg in eine Essstörung – sagen zwei Ernährungsexperten. Was sie statt Diäten raten.

Schluss mit dem guten Leben! Die Weihnachtsgans ist noch nicht ganz verdaut, da predigen die Zeitschriften schon karge Kost. Wie alle Jahre wieder bringen „Brigitte“ & Co. neue Diätvorschläge, der „Stern“ macht sie zur Titelgeschichte, „Petra“ verspricht: „Schlank in drei Tagen“. Und da die guten Vorsätze der Silvesternacht – gesünder essen, ein paar Kilo weniger – auch noch nicht vergessen sind, greifen die Leute gerne zu.

Alles Quatsch, sagen Eva-Maria Endres und Christoph Klotter. Im schlimmsten Falle gefährlicher Quatsch: „Diäten sind der ideale Einstieg in eine Essstörung.“ Die beiden haben sich lang genug mit dem Thema beschäftigt, Klotter als Professor für Ernährungspsychologie in Fulda, Autor von Titeln wie „Warum wir es schaffen, nicht gesund zu bleiben“, Endres als Ernährungswissenschaftlerin, die ein Buch über die „Genussrevolte“ geschrieben hat: „Von der Diät zu einer neuen Esskultur“.

Die wollen sie in ihrem Café fördern. Vor zwei Jahren eröffneten sie das „Diderot“ in Prenzlauer Berg, vor allem als Begegnungsort, wo Antagonisten wie Vertreter der Lebensmittelindustrie und Grüne, Fleischbrater und Veganer bei Veranstaltungen miteinander ins zivilisierte Gespräch kommen sollen, als etwas andere Fortbildungsstätte für Ernährungsberater, jenseits der reinen Naturwissenschaft.

Eine Zauberformel, one for all, gibt es nicht

Die schlechte Nachricht vorweg: Wer abnehmen, seine Ernährung wirklich verändern will, braucht Geduld und einen langen Atem, muss in Monaten, ja, Jahren rechnen statt in Wochen und Tagen. Von Hauruckaktionen, dem Essen als Ausnahmezustand – nur noch Ananas oder Kohlsuppe –, rät das Paar eindringlich ab. Das hält keiner lange durch, der Jojo-Effekt ist allgemein bekannt.

Stattdessen empfehlen Endres und Klotter, klein anzufangen und zu gucken, worauf man am ehesten verzichten kann. Vielleicht reicht das ja schon. So wie bei dem befreundeten Arzt, der einfach den Zucker im Kaffee wegließ, den er literweise trank.

Einen festen Essensrhythmus sollte man sich zulegen, statt zwischendurch mit Schokoriegeln den Heißhunger zu bekämpfen. Ob drei, fünf oder mehr Mahlzeiten, müsse jeder für sich selbst herausfinden. Ohnehin sollte man das Ganze als großes Selbstexperiment betrachten. Eine Zauberformel, one for all, gibt es nicht, schon weil der Stoffwechsel sehr individuell abläuft. Statt auf Dr. Hirschhausen zu hören, der gerade von seinem Intervallfasten schwärmt, 16 Stunden hungern, acht Stunden zuschlagen, sollte man lieber seinem eigenen Körper lauschen. Was bekommt mir, was tut mir gut? Wie kann ich vorausplanen? Die Tipps sind so schlicht wie einleuchtend: Nicht ohne Liste einkaufen gehen, sich vor dem Brunch überlegen, dass man zum kleinen Teller greift, dann isst man automatisch weniger, und sich erst mal das nehmen, was einem am besten schmeckt, statt alles wahllos draufzuladen.

Bloß keine Kalorien zählen!

Ansonsten plädieren Endres und Klotter für eine „Enthysterisierung“, mehr Gelassenheit. So, wie sie sie beim Gespräch in ihrem Café praktizieren, an dem die beiden Kinder teilnehmen. Die Kita ist zu, der dreijährige Nathan lässt sich mit Tee und Süßem bei Laune halten, während sein Bruder Aaron, sechs Monate alt, auf dem Schoß des Vaters quietscht und juchzt. Gelassenheit – und Genuss.

Christoph Klotter (61), Eva-Maria Endres (31) und Sohn Nathan (3) in ihrem Café.
Christoph Klotter (61), Eva-Maria Endres (31) und Sohn Nathan (3) in ihrem Café.

© Kai-Uwe Heinrich

Nicht zufällig hat das Paar sein Café nach einem Franzosen benannt, dem Aufklärer Diderot, der Vernunft mit Sinnlichkeit verband. Die Franzosen sind mit ihrem Ernährungsparadox ein eingängiger Beleg für ihre Thesen. Denn die Gallier essen alles, was Gesundheitsapostel verdammen: Weißbrot, Butter, fetten Käse und rotes Fleisch, Rotwein dazu, haben auch schlechtere Leber- und Cholesterinwerte – und gleichzeitig die höchste Lebenserwartung in Europa. Wobei es auch, glaubt Endres, eine Rolle spielt, dass die Qualität der Lebensmittel dort höher ist, Essen als geselliges Ereignis zelebriert wird. Was psychisch satter mache als eine Tüte Chips, nebenbei verschlungen.

Bloß keine Kalorien zählen! Damit, sagen die beiden, schaffe man nur ein weiteres Zwangssystem. Die Gefahr, seine eigene Grenze zu überschreiten, ist hoch, dann schlägt man entweder über die Stränge – jetzt ist’s ja eh egal –, oder ist böse mit sich. Und das, erklären die fröhlichen Wissenschaftler, ist außerordentlich ungesund! Gut zu sich zu sein, lautet eine ihrer Empfehlungen. Dazu gehört unbedingt die Belohnung. „Unser limbisches System diktiert unser Verhalten“, sagt Klotter. „Und es verlangt bedingungslose Belohnung.“

"Das Essen ist eins der letzten Refugien der Freiheit"

Gut, gesund. Ein Salat aus dem Berliner Café „Diderot“.
Gut, gesund. Ein Salat aus dem Berliner Café „Diderot“.

© Natascha Morokhova

Das Essen ist die einfachste Form der Gratifikation. Wer also abnehmen will, muss sich adäquate Goodies überlegen. „Karottensticks statt Schokoriegel“, sagt Endres, „das funktioniert nicht.“ Statt an den Kühlschrank zu gehen, wenn man von der Arbeit nach Hause kommt, könnte man sich doch eine halbe Stunde hinlegen und Musik hören. Oder, wer’s mag, eine Runde joggen.

Nicht zu viele Studien lesen, könnte man auch noch ergänzen. Dauernd kommt eine neue heraus, die oft genug das Gegenteil der vorhergegangenen erklärt. War gestern Fett des Teufels, ist heute Zucker der größte Bösewicht. Dabei lässt sich nach Meinung des Diderot’schen Paares die ganze Forschung zum Thema gesundes Essen auf drei gesicherte Erkenntnisse reduzieren: dass es abwechslungsreich sein, viel Gemüse enthalten und industriell unverarbeitet sein soll. Also: viel kochen.

Dabei meiden die beiden selber das Wort „gesund“, das jage Gesunden wie Kranken nur Schrecken ein, klinge leicht nach Bevormundung und Bedrohung. Und die exzessive Beschäftigung damit macht selber krank. „Orthorexia nervosa“, so nannte der amerikanische Arzt Steven Bratman schon vor 20 Jahren das, woran er selber litt, die Besessenheit von gesundem Essen, ein Zwangsregiment, das ihn immer weiter in die Isolation trieb. Eine Crux aller Diäten.

"Wir sind von Zwängen und Pflichten umstellt"

Gerade der soziale Aspekt aber spielt eine zentrale Rolle. „Übers Essen“, sagt Klotter, „gewinnen wir soziale, kulturelle, politische Identität.“ Die einen definieren sich über Tomaten vom Bauern oder vegane Kost, für die anderen gehören Fritten und Big Macs zum Ich. Die kann man ihnen nicht einfach wegnehmen oder verbieten, wie die Grünen mit ihrem Vorstoß des wöchentlichen Veggie-Days erleben durften. „Wir sind von Zwängen und Pflichten umstellt“, sagt Klotter, „das Essen ist eins der letzten Refugien der Freiheit.“

„Nudging“ hat der Ökonom Richard Thaler als ( umstrittene) Methode des besseren Lebens empfohlen: statt mit erhobenem Zeigefinger zu drohen, die Menschen einfach in eine bestimmte Richtung schubsen. Man könnte zum Beispiel den Bäcker an der Schule mit ins Boot holen. Ihn dafür gewinnen, Zucker und Fett im Gebäck zu reduzieren, als billigstes Teilchen nicht gerade die größte Zuckerbombe anzubieten und das Vollkornbrötchen nach vorne in der Auslage zu schieben. So wird das Gesunde ins Blickfeld gerückt, ohne dass das andere ganz verschwindet. Nicht nur das individuelle Verhalten, sondern die Verhältnisse zu ändern, das ist die Grundidee von „Public Health Nutrition“. Den Master-Studiengang, den Fulda 2006 als erste deutsche Hochschule einführte, hat Eva-Maria Endres absolviert.

Soziales Wohlbefinden schafft Gesundheit

Ernährungsberatern empfiehlt das Paar denn auch, mit Sozialarbeitern „ins Feld zu ziehen“ und zu gucken, was realistisch ist, was die Menschen ändern wollen, was sie ändern können. Und sie dabei zu unterstützen. Was natürlich eine Frage des Geldes und des gesellschaftlichen Willens ist. Nur: Ohne geht es nicht. „Das ist eine einfache Formel – soziales Wohlbefinden, nicht ein einzelnes Lebensmittel, schafft Gesundheit.“ Also geht es darum, den Rückhalt in der Gemeinschaft zu stärken, dort Strukturen zu verändern.

20 Prozent der Bevölkerung interessieren sich Umfragen zufolge für gute Ernährung, ein enormer Anstieg. Selbst Discounter bieten immer mehr Bio-Produkte und frisches Obst und Gemüse an. Aber was ist mit Hartz-IV-Empfängern, die sich die Ernährungspyramide nicht leisten können? Was mit bildungsfernen Schichten, die die Broschüren der Krankenkassen unter Umständen gar nicht verstehen, sich dadurch gedemütigt fühlen? Auch das gehört zu den Paradoxen: Diejenigen, die Hilfe am nötigsten hätten, nehmen sie am seltensten in Anspruch. Selbst wenn – als Psychotherapeut, sagt Klotter, kann er Hunderte von Stunden für einen Patienten beantragen. „Und die werden mir bewilligt. Bei der Ernährungsberatung sind’s nur fünf. Und ich bekomme das doppelte Honorar.“ Ein krasses Missverhältnis, das er anprangert.

So wie die Idee von Essen als Religionsersatz. Immer mehr Menschen glauben ja, die reine Lehre gefunden zu haben, andere missionieren oder verteufeln zu müssen und stürzen sich in einen Glaubenskrieg. Im postchristlichen Zeitalter, sagt Klotter, „versucht man Erlösung und Unsterblichkeit mit anderen Mitteln zu erreichen. Ich erlöse mich durch meinen Körper. Die 68er haben das mit der Sexualität versucht, wir machen das heute mit dem Essen.“ Nur funktioniert es nicht. „Essen ist keine Sünde“ heißt ein „Anti-Diät-Buch“ aus dem Jahre 1997, an dem der Psychologe mitgewirkt hat. Aber heilig macht Essen ebenso wenig.

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