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Mimolette: Dieser Käse lebt

Die USA lassen leckeren Mimolette nicht einreisen. Er sei dreckig. Da kennen sie den Würchwitzer nicht! Über die Geheimnisse einer Käsespezialität.

Im Käseladen von Jill Erber in Arlington, Virginia, steht auf einem Schild: „Wir vertrauen den Milben.“ Mit diesem Glaubensbekenntnis („In Mites we trust“) setzt sich die Käsehändlerin für den uneingeschränkten Import einer Spezialität ein, der von den US-Behörden seit Anfang dieses Jahres blockiert wird: Mimolette.

Im März hatte die Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln die Einfuhr von mehreren hundert Kilo des französischen Käses verweigert. Nur wenige Wochen, nachdem sich Präsident Obama für ein Transatlantisches Freihandelsabkommen ausgesprochen hatte. Und obwohl Mimolette seit Jahren in den USA gegessen wird. Nun werden dort die Vorräte der Händler knapp.

Alleine im Juli wurden 44 Käselieferungen am Zoll gestoppt, zwölf davon enthielten Mimolette. Das Produkt sei „dreckig, verfault oder verdorben“, heißt es in den Akten der Behörde und „zum Verzehr nicht geeignet“. Käsekenner wie Jill Erber halten diese Einschätzung für Unsinn und protestieren auf Facebook, Twitter und der Straße. Sie wollen sich den rotgoldenen Käse nicht vom Brot nehmen lassen.

Bakterien, Kälbermägen, Schimmelpilze, Maden und eben Milben – in der Käseherstellung kommt einiges zum Einsatz, das für sich allein genommen kaum jemand auf dem Teller haben möchte. In Verbindung mit Milch entstehen daraus jedoch Köstlichkeiten, die mal nach Heu und mal nach Karamell schmecken, die riechen wie Seetang oder ein lange verschlossener Kuhstall, die am Gaumen kleben oder ordentlich gekaut werden müssen. Rund 5000 Käsesorten hat die vor allem in westlichen Ländern kultivierte Tradition des Milchvergammelns hervorgebracht. Manches Aroma, mancher Geruch kann Gänsehaut hervorrufen. Beim einen vor Lust, beim anderen vor Ekel.

„Beim ersten Bissen erscheint der Mimolette erst trocken wie Parmesan. Ich empfehle unseren Kunden, ihn ein wenig im Mund zu behalten, bis er sich erwärmt. Dann entfaltet er sein ganzes Aroma“, sagt Romain Dumond. Nach mehrmonatiger Reife im Keller schmeckt der Käse zunehmend nach Haselnuss mit leichter Säure. Und sieht wegen der Fraßlöcher in der Rinde aus wie der Mond. Mehrere Kilo verkauft Dumond, Mitbegründer von „La Käserie“, einem Laden mit Café in Prenzlauer Berg, pro Monat an seine Kunden. Diese wüssten, dass auf der Rinde Milben herumwandern können. „Und nicht nur auf dem Mimolette, auch auf sehr altem Gruyère oder Comté. Käse ist etwas sehr Lebendiges.“

Besonders lebendig ist die Tradition der Käseveredelung in einem Dorf im sachsen-anhaltischen Burgenlandkreis. Würchwitz, das sich zwischen Kornfeldern und Hügeln mit Obstbäumen in die Landschaft duckt, hat nur etwas mehr als 600 Einwohner, dafür aber ein von Weitem sichtbares Denkmal aus Carrara-Marmor und ein international bekanntes Museum. Beide sind jenem Spinnentier gewidmet, dem die US-Behörden kein Visum ausstellen wollen: der Käsemilbe.

Seit Jahrhunderten nutzen die Bewohner der Region zwischen Würchwitz und der 20 Kilometer entfernten Stadt Altenburg in Thüringen den wegen seiner Vorliebe für Mehl und Trockenfrüchte eigentlich als Schädling eingestuften Krabbler, um Käse für den Hausgebrauch herzustellen. Helmut Pöschel, pensionierter Biologielehrer und Deutschlands einziger eingetragener Milbenkäseproduzent, stellt in seinem Milbenkäsemuseum ein Holzbrett auf den Tisch. Darauf: Dick gebutterte Brotstücke, belegt mit Käsescheiben, die kaum mehr Durchmesser haben als ein Daumen. Ihre Maserung lässt an Bernstein denken. Am grauschwarzen Rand hat der Käse Löcher und Kanäle: Fraßspuren. Und scheinbar hellen Staub – eine Mischung aus Roggenmehl und lebenden und toten Milben. „Der Gourmet isst das mit“, sagt Pöschel.

Während der Mimolette nach der Reife mit Druckluft besprüht und abgebürstet wird, um die meisten Milben zu entfernen, kommt der Würchwitzer Käse direkt auf den Tisch. Die Bewegungen der etwa 0,3 Millimeter großen Milben sind nur mit sehr guten Augen zu erkennen. Erst unter dem Mikroskop sieht man ihre acht Beine und Kieferklauen und die wenigen, langen Haare auf dem gepanzerten Körper. Aber auch ohne Nahaufnahme muss man ein unerschrockener Esser sein, um den Käse vorbehaltlos genießen zu können. Obwohl er schmeckt. Der Längliche beißt sich wie sehr alter Gouda, hat ein würzig-salziges Aroma nach gereiftem Harzer mit Kümmel. Das liegt an den Ausscheidungen der Milben, aber auch an Helmut Pöschels Rezept.

Für seine Bio-Milbenkäse-Rollen presst der 68-jährige Magerquark von Hand aus, um die Trockenstufe zu erhöhen. Er würzt die Masse mit Salz, Kümmel und getrockneten Holunderblüten, bevor er sie zu etwa acht Zentimeter langen Röllchen „klitscht“. Diese werden auf einem Brett zum weiteren Trocknen ausgelegt. Zum Reifen kommen sie in eine Holzkiste mit von Milben belebtem Roggenmehl. In der Masse sehen die Tiere aus wie mehrere Kilo Zimt gemischt mit etwas Puderzucker. Und riechen leicht nach Harnstoff.

Drei bis vier Monate lagert der Käse in der Kiste, muss jeden Tag gewendet werden. Während des Reifeprozesses fressen die Milben ungefähr die Hälfte der Masse auf. Ein aufwendiger und nicht sonderlich ertragreicher Herstellungsprozess: Etwa 1000 bis 2000 Käse produziert Pöschel so pro Jahr. Gemeinsam mit seinem guten Freund, dem 26-jährigen Christian Schmelzer, vertreibt er seine fingerlangen Bio-Milbenkäse-Rollen und die etwas größeren Würchwitzer Himmelsscheiben seit 2005 deutschlandweit über das Internet. Obwohl beide angebotene Sorten mit 8,99 und 11,99 Euro das Stück teuer sind, bringt der Verkauf nicht genug ein, um davon zu leben.

Dafür gönnen sich die beiden Macher von den Einnahmen ab und zu Reisen zu Slow-Food-Messen wie dem „Salone del Gust & Terra Madre“ in Turin oder der „Cheese“, die jetzt im September wieder in Piemont stattfindet. Seit 2006 gehört der Milbenkäse der „GbR Schmelzer & Pöschel“ nämlich zu den „Passagieren“ des internationalen Slow-Food-Projekts „Arche des Geschmacks“. Die 1996 initiierte Aktion schützt über 1000 regionale Lebensmittel, Nutztierarten und Kulturpflanzen auf der ganzen Welt vor dem Vergessen.

Ob ein Produkt einen Platz auf der Arche erhält, hängt vor allem davon ab, ob es eine regionale Besonderheit darstellt und seine Herstellung eine lange Tradition hat. „Für unsere Beurteilung ist der handwerkliche Aspekt äußerst wichtig“, sagt Peter Niemann, Leiter des Slow-Food-Regionalverbandes Leipzig/Halle. „Der Würchwitzer Milbenkäse wird auf der gleichen Sauermilchbasis hergestellt wie zum Beispiel ein Harzer Roller oder ein Leipziger Blauer.“ Was ihn von den anderen mithilfe von Milben gereiften Käsesorten unterscheide, seien die Holunderblüten („früher waren es oft auch nur Blätter“), die dem Quark beigegeben werden und deren Stiele den Spinnentieren Zugang ins Innere ermöglichen. „Bei der Herstellung von Mimolette verbleiben die Tiere außen auf der Rinde, und diese wird gewöhnlich vor dem Verzehr entfernt.“

Dieses einzigartige Verfahren macht den Würchwitzer Käse aus Sicht des Convivium-Leiters Niemann schützenswert. „Abgesehen von Helmut Pöschel kenne ich nur zwei Leute in der Region, die noch eine Milbenkiste haben. Und beide sind sehr betagt.“ Davon abgesehen sei der Käse aber auch einzigartig im Geschmack. „Sehr herb, mit leichten Bitternoten am Gaumen. Die Ausscheidungen der Milben verleihen der Rinde eine an verdünnten Honig erinnernde Süße, die dazu einen schönen Kontrast bildet.“ Länger gereift, erinnere ihn der Biss an harte Lakritze. Trotzdem, sagt Niemann, sei das Aroma nicht jedermanns Sache.

Im edlen Hotel Elephant in Weimar kam der Würchwitzer Milbenkäse gut an. „Einige Gäste haben gezielt nach ihm gefragt“, erzählt Sous-Chef Marco Herz. Im Rahmen eines Slow-Food-Menüs servierte der dortige Küchenchef, Sternekoch Marcello Fabbri, die regionale Spezialität mit karamellisierten Honigbirnen. Natürlich habe es auch Restaurantgäste gegeben, die das Angebot nicht so verlockend fanden. Aber in der gehobenen Gastronomie sind Sorten wie Tomme de Savoie oder Gruyère, der deutsche Deichkäse oder der Mimolette – alle potenzielle Milbenträger – durchaus auf dem Käsewagen zu finden. Das ist weder ungewöhnlich noch unhygienisch, auch wenn die US-Behörden dies scheinbar anders sehen. Mit ihrem Speichel und ihren Ausscheidungen sorgen die Tiere nicht nur für die Reife und geben dem Käse sein spezielles Aroma. Sie machen ihn für Monate haltbar. Ganz ohne Bakterien und Pilzkulturen. Denn diese vertragen sich nicht mit dem Ammoniak im Milbenspeichel, weshalb Helmut Pöschels Einraum-Manufaktur bei den regelmäßigen Hygieneuntersuchungen immer sehr gut abschneidet.

Und auch die Argumentation der US-Behörden, die Milben würden Allergien auslösen, könnte bald widerlegt werden. Drei Pharmaunternehmen experimentieren zurzeit mit den Würchwitzer Milben. Möglicherweise können diese dabei helfen, Patienten gegen Hausstauballergien zu desensibilisieren.

„Ich glaube, dass die gesundheitlichen Bedenken nur vorgeschoben sind“, sagt Romain Dumond. „Seit Hunderten von Jahren wird in Europa mit Milben gereifter Käse gegessen. Wieso soll dieser plötzlich krank machen?“

Der Berliner Käsehändler vermutet, dass der Import eher aus wirtschaftlichen Interessen gedrosselt wird. Die USA sind das Land mit der größten Käseproduktion weltweit. Mit dem Transatlantischen Freihandelsabkommen könnte mehr Bewegung in den Markt kommen, als den amerikanischen Herstellern lieb wäre. Und dann nicht nur in Form von auf dem Käse herumwandernden Milben.

Jessica Braun

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