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Der Markt aus der Luft (oben) und ein Blick in die Wild- und Geflügelhalle (unten).

© imagebroker / vario images

Gesellschaft: Paris geht durch den Magen

Neun Hallen allein fürs Gemüse, sieben für das Fleisch: Rungis ist größer als Monaco und versorgt 18 Millionen Menschen. Besuch auf dem größten Markt der Welt

Marc Hervouet trägt während seiner Nachtschicht im Rungis einen Panamahut. Es gibt andere, die mit Borsalino arbeiten oder, passend zum hellen Kittel, mit einem weißen Stetson herumlaufen. Wieder andere tragen bretonische Hüte, Baskenmützen, Baseballkappen. Es gibt sogar Menschen mit „Charlotte“, wie die Franzosen die Plastikhaube nennen, die selbst George Clooney etwas dümmlich aussehen ließe.

Die Hüte, man ahnt es, sind ein Zeichensystem in Rungis, dem größten Lebensmittelmarkt der Welt. Wer einen Borsalino oder einen Stetson trägt, der macht einen Jahresumsatz, der sich sehen lassen kann. 25, 50, 80 Millionen Euro im Jahr sind hier keine Seltenheit.

Wer eine Baseballkappe auf dem Kopf hat, gehört dagegen nicht zu den Männern, die das Sagen haben, der muss anpacken, Paletten verschieben, Fische ausnehmen, Kalbsfüße zerhacken.

Und die lächerliche Duschhaube – sie gehört den Besuchern und bedeutet: zum ersten Mal in Rungis. Sie sagt: erstaunt, berauscht, sprachlos angesichts dieser Paletten voller Meeresfrüchte, angesichts der Rinder, die in den Hallen hängen, der Eingeweide, eimerweise, und der Käselaibe groß wie Wagenräder, der Paletten voller Erdbeeren, mitten im März, der Wagenladungen Knoblauch, der Artischocken zum Malen schön, der Felder von Tulpen, Rosen, Ranunkeln, dieser Blumenwiesen, auf denen die Pracht in Eimern steht. Die Haube der Besucher, sie bedeutet Beglückung und auch Betretenheit angesichts einer unfassbaren Fülle.

Rungis – ein Markt? Nein, eine Stadt in Wahrheit, auf 232 Hektar, größer als Monaco, mit eigenen Restaurants, zwölf an der Zahl, Reisebüros, einer Bank, einem Polizeirevier, einem Güterbahnhof, 65 Kilometer Straßennetz und Hallen, Hallen, Hallen. Neun Hallen für Obst und Gemüse, fünf große und viele kleine Hallen für Milch- und Käseprodukte, sieben für das Fleisch, noch mehr für die Blumen.

Als „Paradies“ hat der ehemalige Chefkoch des Weißen Hauses den Großmarkt bezeichnet. „Wenn Du Priester bist, willst Du den Vatikan besuchen. Wenn Du Chefkoch bist, willst Du hierher kommen.“ Rungis ist ein Ort der Superlative: 30 000 Menschen kommen täglich, sie liefern, sie lagern, sie verkaufen, sie kaufen die Ware, sie transportieren sie wieder ab. Es ist ein schwindelerregendes Karussell. 30 000 Menschen, das macht mehr als sechseinhalb Millionen im Jahr, 24 000 Fahrzeuge, die Nacht für Nacht durch die Mautstelle fahren, 1,5 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, die hinein- und wieder hinausgeschafft werden, 18 Millionen Konsumenten, die am Ende dieser Nahrungskette stehen und noch mehr Geld, das umgeschlagen wird: 7,767 Milliarden im Jahr. Der Jahresumsatz von Rungis entspricht ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt von Georgien. Eine Stadt? Nein, ein kleiner Staat des Überschwangs. Eine unverhoffte Parallelwelt. Man ist stolz, ihr anzugehören.

Rungis liegt von der Kathedrale von Notre Dame ganze 13 Kilometer entfernt. Ein Katzensprung eigentlich. Aber eine Welt, in der die Uhren anders gehen. Man muss nachts kommen oder in den frühen Morgenstunden. Um vier Uhr morgens, wenn selbst das von Sarkozy beschworene Frankreich, das früh aufsteht, noch in den Federn liegt, ist Rungis im Nu von Paris aus erreicht. Kein Stau, kein Stop-and-Go. Aber auch kein Tourist, der sich hierher verirren würde. Ein großer Fehler eigentlich, denn in Rungis zeigt Frankreich seine Seele.

Es ist 5.47 Uhr am Morgen. Noch ein, zwei Stunden und Marc Harvouet wird im Bistrot „Saint Hubert“ in Halle V1G – Geflügel und Wild – ein Entrecôte essen oder Lammschulter, vielleicht sogar einen Kalbskopf, Tête de Veau. Es ist gut möglich, dass er dann, um acht Uhr in der Frühe, bevor er ins Bett geht, mit einem kühlen Weißwein oder einem Burgunder anstoßen wird auf gute Verkäufe und eine hervorragende Nacht.

Gegen drei beginnt der Arbeitstag von Hervouet. In den Fischhallen fangen sie noch früher an, bei den Blumen etwas später. Jetzt, um 5.47 Uhr gibt er bei 9 Grad Celsius zwischen Gänseleber und Bressehühnern noch ein letztes Interview in dieser Nacht. Mit seinem Panama sieht er aus, als handele er mit Zigarren, nicht mit Hähnchenkeulen. Ein österreichisches Fernsehteam fragt ihn nach Trends. Hervouet spricht wie ein Politiker. Er ist schon lange im Geschäft, ist Präsident des europäischen und des französischen Verbandes des Wild- und Geflügel- Groß- und Außenhandels. Die Liste seiner Ämter ist lang. Kein Verein oder Verband, der das Wort Geflügel im Titel hat, in dem er nicht einen Posten hätte.

Hervouet, 52, hat das Geschäft von seinem Vater übernommen, der hatte es wiederum von seinem Vater. Großvater Edmond hatte 1925 angefangen, in Les Halles, im Bauch von Paris.

1969 kam der Umzug in die Vorstadt Rungis. Im selben Jahr landete der erste Mensch auf dem Mond. Die Uhren standen auf Fortschritt. Genau zwei Tage waren nötig, um den zwölf Hektar großen Markt aus dem Hallenviertel der Innenstadt nach Rungis zu verlegen. Aber das Verschwinden des Bauchs von Paris riss eine Wunde, die bis heute nicht ganz verheilt ist. Die Hallen von Victor Baltard wurden abgerissen, ein unterirdisches Einkaufszentrum mit Nahverkehrsbahnhof entstand. Es stellte sich als so unfunktional heraus, dass es gerade wieder abgerissen und neu aufgebaut wird.

Der Bauch von Paris war also leer. Aber in kürzester Zeit entwickelte sich Rungis zum Bauch Europas, ja, zum Nabel der Welt. Noch in den 70ern mussten ehrgeizige deutsche Köche persönlich nach Rungis reisen, wo sie den Kofferraum ihrer Wagen mit bretonischen Hummern und Lammkeulen aus dem Lozère vollpackten, um die Ware dann über die Grenze zu schmuggeln. Es war, wenn man so will, Beschaffungskriminalität für eine gute Sache, weil es nur um eines ging: Qualität.

Inzwischen ist die Kühlkette lückenlos, die Logistik perfekt. Exotische Früchte aus allen Kontinenten, Fische aus allen Weltmeeren landen in Rungis und es gibt kein Produkt, das nicht in 36, höchstens in 48 Stunden an jeden beliebigen Punkt der Erdkugel geliefert werden könnte.

Rungis ist konkurrenzlos auf der Welt. Der Blumenmarkt im niederländischen Aaslmeer mag es vom Handelsvolumen mit dem Blumenmarkt von Rungis aufnehmen können. Auch die Fischmärkte von Tokio und Barcelona können mit dem „Pavillon de la Marée“ konkurrieren. Aber kein Platz auf dieser Welt, der die Überfülle von Rungis erreicht. Kein Ort, nirgends, der einen gleichzeitig derart rühren und auch beschämen kann.

Zugleich ist dieser Großmarkt auch ein Barometer. Er zeigt Tendenzen an, Trends, Moden. Neue Produkte tauchen hier erstmals auf, alte Gemüsesorten, die wiederentdeckt werden, kann man hier zuerst begutachten. Der Bio-Trend lässt sich hier an den Zahlen ablesen, genau wie neue Vorlieben der Konsumenten. Weil Sushi-Restaurants weltweit aus dem Boden schießen, hat die Firma Océane ihren Umsatz in wenigen Jahren verdoppelt.

Wer hier durchhält und erfolgreich ist, hat Willen und sicher auch Humor. Rungis hat seine eigenen Regeln. Es ist schwierig, Arbeiter zu finden, die sich mit einem Einstiegsgehalt von 1500 Euro bei Temperaturen nicht weit vom Gefrierpunkt entfernt die Nächte um die Ohren schlagen wollen. Aber das soziale System von Rungis ist dafür auch durchlässiger.

Mokthar Elnaggar, in Ägypten geboren, handelt mit Innereien. Er erzählt stolz, wie er deutschen Schlachthäusern das Kalbsbries abkauft, die Rinderzungen, all das, was man in Deutschland eher ungern isst, aber was in Frankreich Absatz findet. 40 bis 50 Tonnen Ware täglich, die er aussucht, kauft, kontrolliert, verkauft. Er war 38, als er seine Firma gründete. Fast drei Jahrzehnte später zögert er nicht, seinen Jahresumsatz zu nennen: 82 Millionen Euro. Er hätte hier draußen in Rungis, wo Frankreich seine Seele zeigt, das Recht auf einen Borsalino oder Stetson. Elnaggar aber trägt nur einen Sonnenhut.

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