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Russische Pfannkuchen (Blini).

© IStockphoto/Kokhanchikov

Sowjetküche: Blini für die Bolschewiken

Mit elf kam sie von Moskau nach Philadelphia. Anya von Bremzen schreibt über Luxusrestaurants – und erzählt nun die Geschichte der Sowjetküche.

Ein kulinarisches Buch über die UdSSR? Als Anya von Bremzen die Idee in den 90er Jahren zum ersten Mal einem amerikanischen Verlag antrug, fiel die Reaktion brüsk aus: „Worüber wollen Sie schreiben?“, raunzte der Verleger. „Warteschlangen?“

20 Jahre später, Berlin-Mitte, ein Tisch vor dem Café Gorki-Park. Anya von Bremzen löffelt Pelmeni, russische Teigtaschen, umschwirrt von Wespen, es ist der letzte warme Tag des Jahres. Neben ihrem Teller liegt das soeben erschienene Buch „Höhepunkte sowjetischer Kochkunst“, das nun doch noch Wirklichkeit geworden ist, allen Zweiflern zum Trotz, die nicht glauben wollten, dass mit Geschichten über leere Regale ein Buch zu füllen ist. „Eine Erzählung über sowjetisches Essen“, sagt Anya von Bremzen, „ist zwangsläufig eine Chronik des unerfüllten Verlangens.“

Wenn sie Englisch spricht, klingt noch immer der russische Akzent durch, den die Migrantin nie ganz losgeworden ist. 1974, als Elfjährige, kam sie mit ihrer Mutter in Philadelphia an, sie waren russisch-jüdische Flüchtlinge, ausgewandert aus Moskau, im Gepäck einen Nachnamen, der auf adlige deutsche Vorfahren zurückgeht.

Bis heute hat von Bremzen nicht vergessen, wie unterschiedlich sie und die Mutter damals auf die neue Umgebung reagierten. Die strikt anti-sowjetisch eingestellte Mutter lief mit leuchtenden Augen durch die Supermärkte, sie liebte alles an ihrer neuen Heimat, ganz besonders die Vielfalt des Essens. Anders die Tochter, der Amerika einfach nicht schmeckte. Voller Heimweh, erinnert sie sich, habe sie die Regale mit den fremden Lebensmitteln gemustert: „Hundert Sorten Wurst, und keine schmeckte.“

Zugegeben, die kindlich-kulinarische Sehnsucht nach der Sowjetunion schwand mit der Zeit. Als Journalistin jedenfalls widmete sich die etwas älter gewordene Anya von Bremzen zunächst deutlich besser beleumundeten Spezialitätenküchen, vorzugsweise der spanischen, deren intimer Kenntnis sie ihren heutigen Ruf als Restaurantkritikerin verdankt – sie schreibt unter anderem für das US-Magazin „Travel & Leisure“, mit fünf Rezeptbüchern hat sie diverse Preise gewonnen. Während sie beruflich in internationalen Drei-Sterne-Restaurants speiste, reifte in ihr der Plan, der sowjetischen Küche ein literarisches Denkmal zu setzen – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer offensichtlichen Mangelerscheinungen.

„1917 führten die Brotaufstände zum Sturz des Zaren, und 74 Jahre später versetzten verheerende Nahrungsmittelengpässe Gorbatschows kriselndem Staat den Todesstoß“, schreibt von Bremzen. Auch in den Jahren dazwischen speiste der Sowjetbürger selten üppig, und die Besonderheiten der sozialistischen Nahrungsmittelproduktion prägten nicht nur sein Verhältnis zum Essen, sondern auch zum Staat. Diese Erkenntnis, verbunden mit den kulinarischen Experimenten der Mutter, die sich in New York auf das Nachkochen historischer Gerichte spezialisiert hatte, brachten die Familie auf einen Plan: „Wir aßen und kochten uns durch alle Jahrzehnte des sowjetischen Lebens und nutzten Mutters Küche und ihr Esszimmer als Zeitmaschine und Brutstätte der Erinnerungen.“

Herausgekommen ist bei diesem Experiment ein wunderbar unterhaltendes Buch, das auf knapp 500 Seiten drei Geschichten gleichzeitig erzählt: die der Sowjetunion; die der sowjetischen Küche; und eine sowjetische Familiengeschichte.

Zu Beginn der kulinarischen Reise herrscht in der New Yorker Küche der von Bremzens noch aristokratischer Überfluss. Das Buch setzt in den letzten Jahren des zaristischen Russlands ein, vor der Oktoberrevolution: In den Petersburger Adelspalästen wird Exotisches wie Dorschleber und getrocknete Störrückensehne getafelt, Nikolai Gogol baut in seinen Literaturklassiker „Tote Seelen“ ganze 86 Mahlzeiten ein, Anton Tschechow schwärmt von Pfannkuchen, „weich wie die Schultern einer Kaufmannstochter“. Nur wenig später galt solche Opulenz nicht nur literarisch als passé – der Revolutionspoet Wladimir Majakowski dichtete: „Friss Ananas, Bürger, und Haselhuhn! Musst bald deinen letzten Seufzer tun!“ Nach dem Sturm auf den Winterpalast – und der weniger heldenhaften Plünderung des dazugehörigen Weinkellers – stellten die Bolschewiken das Essen in den Dienst des Klassenkampfs: Lenin erklärte, das Brotmonopol sei in den Händen des Arbeiterstaats „ein effektiveres Instrument als die Guillotine“, der Petrograder Sowjet-Vorsitzende Grigori Sinowjew strich den entmachteten Aristokraten die Lebensmittelrationen zusammen: „Wir wollen ihnen täglich gerade genug Brot geben, damit sie sich erinnern, wie es riecht.“

Etwas später, in den 20er Jahren, setzt Anya von Bremzens Familiengeschichte ein. Als Lenin die zentralplanerischen Zügel etwas lockert, werden unionsweit Privatrestaurants wiedereröffnet – auch in der Schwarzmeer-Hafenstadt Odessa, wo die Urgroßeltern der Autorin damals „Gefillte Fisch“ und andere jüdische Klassiker servieren. Knapp hundert Jahre später, beim Nachkochen in New York, stehen als nächstes „Kotlety“ auf dem Speiseplan: die sozialistische Variante des Hamburgers, adaptiert im Rahmen einer USA-Reise des Sowjetfunktionärs Anastas Mikojan, dessen Ernährungsfibel „Das Buch vom schmackhaften und gesunden Essen“ jahrzehntelang stilprägend bleibt.

Die Gerichte der Fibel sind bald allerdings immer schwerer nachzukochen, weil man die Zutaten kaum bekommt. Das Schlangestehen wird zur Hauptbeschäftigung des Sowjetbürgers, auch für Anya von Bremzens Mutter, die in den frühen 60er Jahren ihren Mann Sergej in einer Warteschlange kennenlernt. Als 1963 Anya zur Welt kommt, macht in Moskau ein Witz die Runde: „Wie sieht es in Russlands Vorratskammern aus?“ – „Wie auf Chruschtschows Kopf.“ Stalins Amtsnachfolger neigte früh zur Kahlheit.

Zum allgegenwärtigen Feiertagsgericht steigt in den folgenden Mangeljahren ein Salat namens „Olivier“ auf, der aus Fleischwurst, Dosengemüse und Mayonnaise zubereitet wird (Rezept unten). In den entleerten Mayonnaise-Gläsern trägt Anya mangels anderer Behältnisse ihre Urinproben zum Arzt, als bei der Achtjährigen eine vermeintlich tödliche Form von Sklerodermie festgestellt wird. Dem Ausreiseantrag der verzweifelten Mutter wird 1974 stattgegeben. In Philadelphia erklärt ihr ein lachender Arzt, dass Sklerodermie bei Kindern harmlos ist.

Anya gewöhnt sich an amerikanisches Essen, während in Moskau Michail Gorbatschow seinen Landsleuten das Trinken abgewöhnt. Die Abstinenzkampagne des „Mineralsekretärs“ entgleitet ihm jedoch genau so wie die Perestroika, die nicht zum geplanten Umbau, sondern zur Auflösung der Union führt.

Mit hektischen Handgesten, die ein bisschen an das Gefuchtel eines Chefkochs erinnern, erzählt Anya von Bremzen im Café Gorki-Park, wie sie die historischen, kulinarischen und biografischen Elemente ihres Buchs beim Komponieren so lange auf Karteikarten hin- und her schob, bis das Ergebnis die richtige Würze hatte.

Mit dem heutigen Russland, sagt sie dann, könne sie leider wenig anfangen, politisch wie kulinarisch: Putins Mafia-Kapitalismus ist ihr so unheimlich wie die postsowjetische Luxusversessenheit ihrer ehemaligen Landsleute. Dabei taucht auf den Speisekarten der Moskauer Nobel-Restaurants jetzt manchmal sogar wieder Olivier-Salat auf – die schlichten Gerichte der Sowjetära sind in Mode. „Aber die alten Leute sagen, dass nichts davon wie früher schmeckt“, sagt von Bremzen. Nostalgisch macht sie das nicht. „Es war früher einfach sehr viel schädliches Zeug in den Lebensmitteln – diesen Geschmack kann man nicht reproduzieren.“

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