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Gesellschaft: Tropfen Ein aus dem Atlantik

Am Madeira ist so vieles verblüffend: seine Produktion, sein Geschmack... Besuch auf der Insel, die dem Wein seinen Namen gab.

Im ersten Moment fühlt sich das subtropische Madeira nach Schweiz an. Tunnel an Tunnel hat man ins Vulkanmassiv gesprengt – den Hilfen aus Brüssel sei Dank. Nun rauscht der Verkehr auf der portugiesischen Atlantikinsel über frisch geteerte Autobahnen. Tief unten glitzert das Meer, an den steilen Hängen stapeln sich Dörfchen in die Vertikale, und in den Gärten wuchern Bananen, Zuckerrohr und Feigen. Von Weinstöcken keine Spur. Und doch: Hier irgendwo wächst das Ausgangsmaterial für einen der obskursten Sprösslinge der Weinwelt – den Madeira.

Schon dessen Ursprung bedingte ein Zufall. Im Zeitalter der Entdeckungen legten Handelsschiffe auf ihren Passagen nach Amerika und Asien im Hafen der Inselhauptstadt Funchal einen letzten Stopp ein, nahmen Proviant und Wein an Bord. Der Legende nach kam eines Tages ein Schiff mit übrig gebliebenen Fässern von einer Reise in die Karibik zurück. Dieser Wein schmeckte viel besser, denn die tropische Hitze hatte die Reifung beschleunigt. Eine Zeitlang schickte man nun die Weine vor dem Verkauf auf See. Weil das aber zu teuer wurde, begann man den Effekt zu Hause nachzuahmen.

Heute klingt der Name Madeira ein wenig nach alten Tanten. Doch es gibt junge Weinmacher auf der 230 000-Einwohner-Insel, die das Image des süßen Weins erneuern wollen.

Einer von ihnen ist Ricardo Freitas. Sein Großvater begründete 1946 „Vinhos Barbeito“. Die modernen Zweckbauten des Weinguts liegen in einem Vorort von Funchal. Nur ein paar Rebzeilen umrahmen die Hallen. „Es sind die einzigen, die uns gehören“, sagt Freitas und lacht. Wie alle sechs verbliebenen Madeira-Produzenten kauft er Trauben bei lokalen Winzern.

Von innen erinnern Freitas’ Hallen tatsächlich an einen Schiffsbauch. Eichenfässer stapeln sich in vier Etagen bis unter das gewölbte Dach aus Zinkblech. Die Sonne scheint durch hohe Fenster. Ein schwerer Duft nach Rosinen, Karamell und Alkohol steht unter der Decke. Jedes Jahr verdunsten zwei bis drei Prozent – dadurch entwickeln die Weine mehr Säure und etwas mehr Süße. Die unteren Fässer altern langsamer und ergeben elegantere, aromatischere Weine. Mindestens fünf Jahre lagert Madeira in so einer warmen Halle, die besten Qualitäten sogar 15, 20 oder mehr als 100 Jahre.

Es gibt vier traditionelle Rebsorten, die jeweils für einen anderen Stil stehen. Sercial ergibt trockene Weine, Verdelho eher halbtrockene, Bual verwendet man für halbsüße Weine, während die Malvasia-Traube die süßesten Weine hervorbringt – und dann „Malmsey“ heißt.

Während überall sonst auf der Insel mehrere Fässer miteinander verschnitten werden, um einen ausbalancierten Geschmack zu erreichen, füllt Ricardo Freitas seine schönsten Madeiras bewusst fassweise ab. Seine delikaten Sercials etwa, in denen er „die Säure und Frische von Orangen, die ich als Kind geliebt habe“ wiederfindet. Höchst individuelle „Colheitas“ entstehen so: Jahrgangs-Madeiras in kleinen Auflagen, wie der nach Banane duftende und nach Bitterschokolade schmeckende, halbsüße 1996er „Boal Casco 307 a+e“. Mit solchen Madeiras gewinnt Freitas nicht nur Preise. Er beeinflusst auch die Arbeit einer neuen Generation von Weinmachern. „Ich gebe Ihnen noch einen Tipp“, sagt er am Ende des Besuchs. „Madeiras müssen Sie aufrecht lagern, um den Kork nicht zu beschädigen. Dann halten sie eine Ewigkeit. Selbst nach dem Öffnen bleiben sie bis zu 18 Monate frisch.“

Ebenfalls in der Nähe von Funchal, in einem Industriegebiet, arbeitet Juan Teixeira, der junge Weinmacher von „Justino’s“. Hier laufen Flachmänner vom Band: Madeira zum Kochen. Teixeira rollt mit den Augen: „Ich hasse diese Verpackung“, sagt er, „aber die Verkaufszahlen stimmen.“ Kein Wunder: Hobbyköche und Küchenchefs in aller Welt schwören auf den cognacfarbenen Likörwein als Zutat für ihre Saucen. Pharmafirmen stellen stärkendes Tonikum daraus her. Konkurrent „Henriques & Henriques“ verkauft Madeira schon fertig gewürzt mit Salz und Pfeffer an die Lebensmittelindustrie. Auch als Pralinenfüllung oder als Farbstoff für Spirituosen ist Madeira beliebt.

Vor der Halle brennt die Sonne. Unter einem Flachdach röhrt eine Pumpe: Stahltanks werden gerade mit hellrotem Jungwein gefüllt. Tinta Negra heißt die rote Rebsorte, aus der immer noch 80 Prozent aller Madeiras entstehen. Vor ein paar Tagen hat Teixeira mit hochprozentigem Branntwein die Gärung gestoppt. „Aufspriten“ heißt diese Methode, die auch bei Port und Sherry zum Einsatz kommt.

Nach dem Filtern wird der süßliche Wein in „Estufas“-Öfen erhitzt. Eine Heizspirale im Innern des Tanks erwärmt ihn auf etwa 50 Grad. Umpumpen bringt die Oxidation zusätzlich auf Touren. Was bei Tafelweinen als Fehler gelten würde, ist beim Madeira erwünscht: Die rot-violette Farbe des Jungweins wechselt ins Orange, Ziegelfarbene, schließlich ins Braune. Teixeira hält das Probierglas in die Sonne: „Nach drei Monaten in den Saunaöfen haben wir einen Wein, der aussieht wie ein alter Madeira.“ Und nicht nur das: „Die traubigen und hefigen Aromen verwandeln sich in oxidierte Töne von Trockenfrüchten, Mandeln, Haselnüssen oder Kaffee.“

Weil es dem Wein nach der Turboreifung aber an Komplexität mangelt, verschneidet ihn der Önologe noch mit besseren Qualitäten, die in gebrauchten Eichenfässern reifen. Die Gerbsäure und scharfen Röstaromen frisch getoasteten Eichenholzes sind bei der Madeira-Produktion unerwünscht: Die Weine bringen aus den vulkanischen Böden selbst eine Menge Säure mit. Darum verwenden viele Madeira-Produzenten Fässer aus der Cognac-Produktion.

Es gibt hunderte Einzelwinzer auf Madeira. Die Weinberge sind winzig, das liegt an der Erbteilung. Aus Platzmangel ranken die Reben an altertümlichen Pergolagestellen. Von dort wachsen sie auch mal aufs Dach des Nachbarn, was die Ernte ertragreicher, aber auch mühsam macht. Schwerstarbeit für ein Nischenprodukt: Als Aperitif oder zu Käse und Dessert hat Madeira eine gewisse Berechtigung. Doch etwa 20 Prozent Alkohol schrecken viele ab.

Am Vielseitigsten ist noch der halbtrockene Verdelho, der Gänseleberpastete genauso begleitet wie eine klare Fleischbrühe oder Räucherlachs. Der halbsüße „Boal“ passt zu frischer Ananas, zu Crème brûlée oder Honigkuchen. Und alle süßen „Malvasia“ vertragen sich bestens mit Kaffee, Schokolade, sogar Zigarren. Aber zu Fisch oder Fleisch? Nein, dafür sind die Aromen zu intensiv.

Aromen, die im besten Fall die Sinne betören. Luis Peireira, ein hochgewachsener Herr mit getöntem Haar und aristokratischen Zügen, Seniorchef von „D’Oliveiras“, hat von seinem 1850er Verdelho Reserva eingeschenkt. Flüssiges Mahagoni. Der 161-jährige Madeira duftet nach Bienenwachs, nach Apothekenschränkchen – und er schmeckt nach Mandarine, getrockneten Aprikosen, auch nach Kaffee, Toffee und Marzipan. Aber vor allem ist da die Frische dieses Methusalems, seine Säure! Als Peireira den Gesichtsausdruck des probierenden Gastes registriert, guckt er amüsiert. Und auch ein bisschen stolz. Er kennt das schon. „Dieser Madeira“, sagt er, „ist so alt wie unser kleiner, solider Familienbetrieb.“

Wenn gereifte Madeiras so etwas wie kostbare alte Möbelstücke sind, dann ist „D’Oliveiras“ eine Antiquitätenhandlung. Die Lagerhalle mit der hölzernen Balkendecke liegt mitten in Funchals historischem Weinviertel in der Rua dos Ferreiros. Sie ist eines von drei Depots der Firma, in denen Weine aus zwei Jahrhunderten bis zur Abfüllung in Fässern schlummern. Und das einzige, das Touristen besuchen können.

Seit 300 Kreuzfahrtriesen pro Jahr die Insel anlaufen, sorgt das für einigen Rummel an den Probiertischen. Ein Rummel, der nicht recht zu dem altehrwürdigen Flaschenarsenal passen will, das sich auf den dunkel gebeizten Regalbrettern drängt. Madeira wurde zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung serviert und zur Vereidigung von George Washington. Jetzt schieben sich rot verbrannte Engländer in karierten Shorts daran vorbei.

Luis Peireira ficht das nicht an. Den Kreuzfahrern verkauft er junge Madeiras. Die Antiquitäten aber verschickt er in die ganze Welt. Nach Japan, Brasilien und Macao, in die USA und nach England, immer öfter auch nach Russland. Peireiras Vorfahren wollten nicht exportieren: „Die haben noch nicht an die Welt gedacht. Die Insel war isoliert. So haben sie Jahr für Jahr mehr Wein zurückgelegt“, erklärt Peireira, der in den 70er Jahren in den elterlichen Betrieb eintrat und den flüssigen Schatz systematisch wie ein Kunstkurator zu heben begann. 47 Posten aus zwei Jahrhunderten umfasst die aktuelle Liste. Neues kommt nur dazu, wenn Jahrgänge zur Neige gehen. Wegen der Wirtschaftskrise gilt derzeit immer noch die Liste von 2010, auch die Preise hat Peireira stabil gehalten: Sie liegen zwischen 28 und 630 Euro. Kein Kleingeld, aber erschwinglich. Niemand muss es also so halten wie Shakespeares trink- und raufsüchtiger John Falstaff. Über den Soldaten heißt es in „Heinrich IV“, er verkaufe seine Seele für ein Hühnerbein und ein Glas Madeira.

Brissac, Gleimstraße 27: Justino’s/ Galeria Kaufhof: Henriques & Henriques/ KaDeWe: Henriques, Justino’s/ Spanische Quelle, Markgrafenstr. 68: Barbeito/ Spanische Weine Berlin (nur online): Blandy, Barbeito, D’Oliveiras/ Weingalerie, Pestalozzistraße 55: Blandy, Cossart, Justino’s/ Weinhandlung Hardy, Thielallee 29: Barbeito, Cossart.

Clemens Hoffmann

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