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Gesellschaft: & Leichte Kost dicke Schinken

Beim Essen lesen – darf man das? Ja!, sagt unser Autor, gibt Literatur-Empfehlungen, praktische Tipps und warnt vor Kerzen. Ein kulinarisches Essay zur Leipziger Buchmesse.

Zu der wichtigen Frage, ob man beim Essen lesen darf, gibt es sehr unterschiedliche Meinungen und erbitterte Kontroversen. Denn diese Frage berührt gleichermaßen die Esskultur wie die kluge Nutzung der Lebenszeit wie auch den respektvollen Umgang mit Literatur.

Jede Kultur rechnet das Essen – neben der Zeugung von Nachkommenschaft und dem Erwerb eines Vermögens – zu den wichtigsten Tätigkeiten des Lebens. Der Körper muss leben, und er muss gesund sein (siehe Zeugungskraft/Erwerbstrieb). Schon aus diesem Grund gebührt der Aufnahme von Speisen eigentlich und mit vollem Recht die gesamte Konzentration, sobald der Teller auf dem Tisch steht.

Aber über die blanken Notwendigkeiten hinaus: Wie soll der Gaumen, wie soll das Genusszentrum im Gehirn all die geschmacklichen Feinheiten der Speisen aufnehmen können, wenn die Wahrnehmung dieser subtilen Reize nur als eine Tätigkeit unter anderen stattfindet? Wenn sich der Essende beispielsweise dem Gerede über Geschäfte oder – eher entschuldbar – der Kontaktaufnahme mit einer Person mit erotischen Reizen widmet? Wie soll sich da auf der Zunge Geschmack entfalten?

Nur in einer einzigen Variante ist das Essen beides gleichzeitig: Selbstzweck und Rahmen. Und diese ist die schönste von allen. Diese vollkommene Form des Genusses ist erreicht, wenn man beim Essen liest – oder beim Lesen isst, je nachdem.

Für den kultivierten Menschen, der synchron den leiblichen wie den intellektuellen Genüssen zugetan ist, ist das Essen in Begleitung von Literatur ein ehrliches und nahezu unbegrenzt steigerbares Vergnügen. Voraussetzung ist natürlich, dass der Genießer und Leser (selbstverständlich auch in seiner weiblichen Form) allein ist. Das ist unabdingbar.

Die Auswahl der Lektüre ist entscheidend. Ich finde, eine Tageszeitung, mehr noch eine Wochenendausgabe, geht zu fast jedem Essen, denn das Themenspektrum ist so breit gefächert, dass sich zu jedem Gericht ein Artikel finden lässt.

Bei Büchern, die eher an einem Thema festhalten, ist es schon schwieriger. Man liest John Lanchesters „Die Lust und ihr Preis“ (idiotischer deutscher Titel), ein hinreißend selbstgefälliger Ich-Erzähler berichtet darin von einer irrwitzigen Verfolgungsjagd, dazu Rezepte aus vielen Kulturen, das Buch lässt sich in jedem Lokal lesen. Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch) liest man beim Inder oder beim Thai. Beim Franzosen eher Balzac (der war ein großer Kulinariker) als Zola, auf keinen Fall den öden Nouveau Roman. Isländische Sagas bei ganz blutigen Fleischgerichten, insgesamt eher im Herbst und im Winter (zum Beispiel die Saga von Egil Skalla-Grimson, gerne auch zu Hackbraten). Im Sommer beim Italiener gehen Camilleris Krimis immer gut, zu venezianischem Tintenfisch in schwarzer Soße ist „Palazzo Calonna“ von Jean-François Vilar unschlagbar.

Manche vertreten die Theorie, man müsse antithetisch lesen, also: die schottische Kate Atkinson zur italienischen Lasagne, den Nordstaatler John Updike zur mexikanischen Bohnensuppe oder die amerikareisenden Sowjetrussen Ilf/Petrow zu einem Teller isländischen Gammelhais.

Ich persönlich lese lieber synthetisch – ich will zur Beschreibung eines schwitzenden Mannes von undurchsichtigem Charakter griechisches Stifado oder Feijoada zu Jorge Amado oder moderneren Brasilianern. Zu Javier Marias reicht Weißwein. Die Kombination Lektüre–Speise hat man naturgemäß entschieden, bevor man Essen geht.

Nun ist es ganz und gar nicht einfach, sein Buch oder seine Zeitschrift so zu platzieren, dass das Papier (oder auch: der Bildschirm) sicher positioniert wird vor Speisenspritzern oder sonstigen Misshelligkeiten. Also Abstand halten!

Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass Glas und Flasche bequem und vor allem risikolos zu erreichen sind, denn beide neigen dazu, umzustürzen. Und Murphys Gesetz zwingt sie dazu, immer in Richtung Buch zu fallen! Rotwein auf einen Schmuckband der „Anderen Bibliothek“ (Eichborn) – Katastrophe! Spritzer von brauner Bratensoße auf dem rot eingeschlagenen, bildverzierten Band mit Vita Sackville-Wests „Zwölf Tage in Persien“ (Wagenbach) – ein ästhetisches Desaster!

Ganz heikel ist die Unsitte, Tische mit Kerzen zu dekorieren (wenn es denn Dekor ist, was ich zu bezweifeln wage). Eigentlich gilt offenes Feuer in geschlossenen Räumen als Gefahrenquelle, leider aber nicht die Kerze auf dem Tisch.

Ein siebenarmiger Leuchter mag einer Tafel Charakter verleihen, aber ein banales Teelicht im Aluschälchen, wie es in den meisten Lokalen auf dem Tisch steht, macht die Welt nicht heimeliger.

Im Gegenteil. Mir ist es einmal passiert, dass – während ich gerade aufmerksam einen Artikel über Vázquez Montalbán las – meine Zeitung Feuer fing. Es handelte sich unglücklicherweise um eine Wochenendausgabe, die ja leider mehr als reichlich Brennmaterial liefert. Meiner Erfahrung nach kann man mit einer brennenden Zeitung locker die Aufmerksamkeit des ganzen Lokals auf sich ziehen (und auch bei meiner Begleiterin, die eben von einer Besorgung zurückkehrte, konnte ich durch meine kleine Einlage erfreulich Eindruck schinden), aber es ist doch sehr lästig, wenn man eilig, aber beherrscht, die brennenden Seiten zusammenfalten muss, um dann mit dem Sportteil, den man vorher als uninteressant beiseitegelegt hat, die Flammen auszuschlagen.

Man weiß auch nie, ob dies rechtzeitig gelingt. Und der Rauch ist lästig. Und der Gestank auch. Aber man bekommt eine frische Tischdecke. Und als Held wird man später von der Begleiterin gefeiert.

Ich glaube jedoch, diese Nummer zieht nur einmal. Der lesende Gourmet löscht also als erstes den angeblich stimmungsvollen Brandherd und schiebt ihn mitsamt Blumenkompost zur Seite. Dann hat er schon einmal Platz geschaffen. Auf dieser Fläche wird nun das Dreieck aus Teller mit Besteck, Flasche mit Glas und Zeitung, Zeitschrift, Buch oder elektronischer Lesehilfe arrangiert.

Vermutlich wird die Bedienung, wenn sie die Karte bringt, als erstes versuchen, die Kerze wieder zu entzünden, aber da muss der Gast entschlossen bleiben.

Oft sind die Tische so klein (kleine Tische = mehr Tische = mehr Umsatz), dass der Platz gerade eben noch reicht, ein Buch oder eine gefaltete Zeitung unterzubringen. Aber es ist nicht bequem. Wenn man die Zeilen unten auf der Seite liest, geht es, will man aber im Buch oder in der Zeitung die Kopfzeilen lesen, muss man sich schon verquer recken.

Für den, der regelmäßig bei Tisch liest, empfiehlt sich ein Buchständer, zum Beispiel einer dieser klappbaren metallenen, wie man ihn Schülern mitgibt. Nun steht das Buch gut lesbar senkrecht in dem meist zu engen Lichtkegel der Lampe, die Seiten werden von Gumminoppen fixiert, und der Abstand zur Spaghettisoße ist ausreichend.

So geht es, auch wenn es für andere Gäste ein wenig drollig aussehen mag. Wen interessiert’s? Wir sind allein mit unserem Buch, eingewoben in einen Kokon aus Fantasien, Bildern, Handlungen, Abenteuern – was kümmern uns die anderen?

Wir sind glücklich. Wir wenden uns dem Buch zu, lesen einen Absatz. Hat das Gehirn zu tun, wenden wir uns der Speise zu und lassen ihre Reize auf den Geschmacksknospen spielen. Dann geben wir unserer Fantasie neue Nahrung und lesen wieder einen Absatz. Dann bewegen wir wieder die Gabel. Und so weiter, immer hin und her. Mit unserem Buch und unserem Essen, die wir uns sorgsam nach Ambiente und Gelegenheit ausgesucht haben, sind wir in bester Gesellschaft.

Und wenn wir das Glück haben, dass an unserem Nachbartisch keine Reisegruppe aus Wanne-Eickel sitzt, die lärmend ihre Großstadttauglichkeit demonstriert oder 15 Kunststudenten, die mit der Gewalt eines Schülerorchesters beschließen, dass sie gerade etwas entdeckt haben, was sie „Kreativität“ nennen wollen – wenn diese Leute alle woanders sind, dann leben wir glücklich.

Paul Stänner

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