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Ein Ketchupfleck.

© Imago

Wenn Essen daneben geht: Das große Kleckern

Es ist ein Elend: Ob Weihnachten, Geburtstag oder Bundespresseball – ruck-zuck sind bei unserem Autor Hemd und/oder Hose besudelt. Als Experte hat er zum Thema Kleckern einige überraschende Thesen

Ich kleckere sogar beim Leichenschmaus. Eine Viertelstunde nachdem der Pfarrer seinen Segen erteilt hatte und wir an Tante Monikas Sarg vorbei aus der Kapelle rüber ins Lokal gezogen waren, färbte sich der untere Teil meines Hemdes in Bauchnabelhöhe kaffeebraun. Meine Schwester rümpfte die Nase, obwohl sie nichts anderes hatte erwarten können, ja weit Schlimmeres von mir gewohnt war. Immerhin passte der Fleck farblich zu dem, den ich zuvor, beim Einschenken in die Tassen, bereits der Tischdecke zugefügt hatte.
Ich kleckere nicht aus Gleichgültigkeit. Im Gegenteil. Tante Monika hat mir arg viel bedeutet, ich schätze ihre Söhne und auch den Rest der Trauergemeinde, ich hätte es vorgezogen, die Veranstaltung mit weißem Hemd zu verlassen. Nur scheint mir das unmöglich.
Ich glaube, es ist Schicksal.
Keine Feier, kein gesellschaftliches Ereignis ohne Kleckerei. Die Frage ist nicht ob, sondern wann es geschieht. Alle Versuche, besonders achtzugeben, bedeuten in meinem Fall nur ein leidiges Hinauszögern des sowieso Unabwendbaren.
Am Geburtstag meines besten Freundes: eingelegte Tomate auf der Jeans. Beim Bundespresseball: Sahnesauce auf Jackettärmel. Heiligabend: Fonduekäsespritzer großflächig über den Esstisch verteilt, bis rüber zu Oma. Der Käse war diesmal aber auch extrem flüssig geraten.
Konsistenz, Durchmesser und Farbe der Kleckse mögen variieren. Was gleich bleibt, ist die Gewissheit, erneut versagt zu haben. Und darauf die Hektik. Am besten sofort einweichen, sagen alle, die meine Katastrophen miterleben. Aus logistischen Gründen geht das oft nicht, und dann bleibt nur: Spuren verdecken, kaschieren, leugnen. Auf dem Bundespresseball habe ich bis in die späte Nacht niemandem mehr die Hand gegeben.
Wer viel kleckert, erkennt mit der Zeit Gesetzmäßigkeiten.

1. Ist das Hemd erst befleckt, erhöht sich wundersamerweise die Wahrscheinlichkeit, dass der Rest des Essens kleckerfrei verläuft. Mit bereits verschmutztem Hemd gelingen plötzlich selbst kompliziertere Manöver wie der Verzehr von Spaghetti mit Tomatensauce oder einer Grapefruit. Der Druck ist einfach raus. 2. Das Essen sucht sich zielsicher die Kleidung, die den stärksten farblichen Kontrast bildet. Deshalb ist es eigentlich müßig, bei der Textilwahl schon mögliche Kleckerrisiken zu antizipieren. Die Speise wird einen Weg finden, uns zu blamieren. Schutz böte höchstens ein Camouflage-Stoff wie der, mit denen die Sitze in den Berliner U-Bahnen bezogen sind. Bisher gibt es ihn nirgendwo zu kaufen. 3. Von der Position eines Fleckens lässt sich auf die Statur desjenigen schließen, der gekleckert hat. Bei dicken Menschen landen die Kleckse erstaunlich oft auf halber Hemdhöhe mittig, eben dort, wo der Bauch das Textil in die Waagerechte zwingt. Schlanke müssen sich dafür häufiger die Hosen waschen.

Viele Menschen haben ein irrationales Verhältnis zum Kleckern. Essensreste auf Kleidung erzeugen bei manchen Ekelgefühle. Das finde ich völlig unpassend. Es handelt sich schließlich um Substanzen, die man ohne zu zögern dem eigenen Körper zuführen würde. Was drinnen guttut, kann draußen doch nicht widerlich sein.
Man könnte dem Klecker-Anfälligen Grobmotorik und Schusseligkeit unterstellen. Doch das wäre zu kurz gegriffen. Tatsächlich ist Kleckern eine Zeitgeisterscheinung, Symptom eines beschleunigten Lebens, in dem Essen und Trinken gern nebenher erledigt werden. Beim Lesen, im Gehen, beim Autofahren. Seitdem ich ein Smartphone besitze, bleibt oft nur eine Hand zum Essen übrig. Mails checken und frühstücken, das klappt prima. Solange ein Ersatzhemd in der Nähe ist.

Die Wissenschaft beschäftigt sich erst seit kurzem mit dem Thema

Ein Ketchupfleck.
Ein Ketchupfleck.

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Wenn ich abends Hunger bekomme und nicht kochen will, gehe ich die Straße runter zum Libanesen, kaufe Falafel oder Halloumi. Er fragt: „Zum Einpacken oder Gleichessen?“ Ich sage: „Für auf die Hand.“ Das Gekaufte verzehre ich direkt auf dem Heimweg, das sind 400 Meter plus zwei Ampeln. Halloumi kleckert doller, weil der Libanese hier verschwenderisch, geradezu unverschämt viel Soße reinklatscht. Manchmal tropft sie nicht direkt auf die Kleidung, sondern läuft zuerst mein Kinn herunter. Ich hasse und liebe das gleichzeitig. Die Wissenschaft hat spät begriffen, welches Forschungsfeld sich hier auftut. Immerhin leistete die University of California in Santa Barbara nun Pionierarbeit. Physiker wollten wissen: Warum kleckert der Mensch beim Kaffeebechertragen? Probanden wurden gefilmt und mit Sensoren ausgestattet, kleinste Tröpfchen dokumentiert. Die Ergebnisse erstaunten. Beim Tragen eines Bechers Kaffee kleckert der Mensch – egal um welche Gefäßgröße es sich handelt – durchschnittlich zwischen dem siebten und achten Schritt. Hinauszögern, im Einzelfall gar verhindern lasse sich das Überschwappen am effektivsten, indem man auf seinem Weg nicht auf den Boden, sondern direkt auf die schwankende Kaffeeoberfläche im Becher schaue, sagt Studien-Co-Leiter Rouslan Krechetnikov. Eine Erklärung dafür hat er nicht, dies wird Aufgabe weiterer Forschungen sein. Ich glaube, Kleckerminimierung ist der falsche Ansatz. Aus der Psychologie wissen wir, dass Vermeidungsstrategien, etwa bei Angststörungen, die Symptomatik langfristig bloß verstärken. Wer Spinnen fürchtet, muss sich mit diesen konfrontieren statt wegzulaufen. Das Auslassen potenzieller Kleckersituationen bedeutet eine Einschränkung der Lebensqualität. Freunde von mir weigern sich penetrant, wenigstens einmal im Restaurant die köstliche japanische Udon-Suppe zu probieren, bei der die dicken Nudeln ständig vom Löffel in die Brühe zurückzuplatschen drohen. Vor Auslandsreisen von Queen Elisabeth II. werden alle Gastgeber angewiesen, keinesfalls Spaghetti zu servieren. Wie freudlos muss das Leben der Königin sein. Italien besuchen und keine Spaghetti abbekommen. Nein, die Menschheit befindet sich da insgesamt auf einem Irrweg. So ein weißes Hemd ist schließlich auch ein Feld der Möglichkeiten. Wie eine Leinwand, die gestaltet werden will. Auf der man sich individuell austoben kann. Die französische Künstlerin Vivi Mac hat den Reiz des Kleckerns erkannt. Sie verschüttet Nahrungsmittel auf dem Esstisch und beginnt dann, mit Hand oder Pinsel das Gekleckerte zu verteilen, bis sich irgendwann langsam das Konterfei eines berühmten Menschen ergibt. Aus einem Schwall Milch zaubert sie binnen zwölf Minuten Nelson Mandela. Mona Lisa entsteht aus Barbecuesauce, Amy Winehouse wird, bisschen zynisch, mit Rotwein modelliert. Gerade hat Vivi Mac den verstorbenen Hollywoodstar Robin Williams geehrt, jetzt grinst seine Schokoladenversion von einem Tablett. Als Clownsnase setzte sie eine Tomate dazu. Ich denke, wir brauchen nicht mehr Lätzchen und keine verschärften Essensregeln. Kleckerminimierung ist kraftraubend und begrenzt uns. Vielmehr bedarf es einer gesellschaftlichen Umdeutung: einer positiven Konnotation des Kleckerns – als sinnliches Erlebnis und Ausdruck von Lebenslust. Wer Flecken macht, der signalisiert damit eben auch: Ich will diese Speise, und ich will sie jetzt, koste es, was es wolle. Jackett ruiniert? Das ist es mir wert.

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