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"Just Desserts" im The Store Kitchen.

© Becca Crawford

Zu jedem Gang was Süßes: Und zum Hauptgang: Dessert

Der Nachtisch kommt meist zuletzt, wenn jeder schon satt und angeheitert ist. So eine Verschwendung! Immer mehr Lokale servieren ein ganzes Menü aus Süßspeisen.

Eine Schneekuppe auf Eis – eine Symphonie in Schneeweiß: Käsekuchen in Kugelform, umspült von Sahnemilch in einem kleinen Schälchen, das auf einem Berg von gecrushtem Eis mehr zu schweben als zu thronen scheint. Luftig und zart ist der Fromage Blanc Island „Cheese Cake“, der nichts mit dem oft backsteinschweren, krachend süßen New York Cheese Cake aus Frischkäse zu tun hat. Ein Hauch von Käsekuchen, bei dem einem nicht mal klar ist, ob er gebacken oder nicht doch eher eine Quarkmousse ist. „Kann ich Ihnen nicht sagen“, ist alles, was der Kellner (ganz in Schwarz) verrät, der einem zu Beginn des Mahls die Stoffserviette entfaltet und auf den Schoß gelegt hat. „Geheimnis.“

Die Schneekuppe ist der Hauptgang des kleinen Dreigängemenüs. Im New Yorker ChikaLicious gibt es nämlich nur Desserts. Als Amuse Geule vorneweg apartes Kokos-Agar-Agar-Gelee mit Zitronensorbet, zum Nachtisch werden Kokosmarshmallow und Schokopralinchen im Puppenstubenformat serviert. Eine der jungen Japanerinnen, die an diesem Mittwochnachmittag das minimalistische Lokal bevölkern, klatscht vor Vergnügen in die Hände.

Wie eine Sushi-Bar

Das winzige Lokal – drei Tischchen und eine Bar – erinnert nicht zufällig an eine Sushi-Bar. Chefköchin und Ex-Bankerin Chika Tillman stammt aus Tokio. Und legt die gleichen Qualitätsmaßstäbe an wie ein Sushimeister: nur die besten Zutaten, alles frisch, kunstfertig zubereitet und ästhetisch präsentiert.

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Der Besuch im East Village liegt Jahre zurück. Aber die schwebende Käsekucheninsel steht noch immer als „signature dish“ auf der Karte. ChikaLicious, 2003 eröffnet, ist wahrscheinlich, nach dem EspaiSucre in Barcelona, die zweitälteste Dessertbar der Welt. Jetzt endlich ist das Konzept auch in Berlin angekommen. Vor ein paar Wochen eröffnete die erste Dessertbar der Hauptstadt, das „Coda“ in Neukölln. Und wird von allen Seiten, auch im Tagesspiegel, bejubelt. Zu Recht. Die von Oliver Bischoff gestaltete Bar ist so cool wie warm. Und was René Frank, zuvor Chefpatissier in einem Drei-Sterne-Resataurant, dort serviert, raffiniert und entspannt zugleich. Jeder kann selbst entscheiden, ob er ein ganzes Probiermenü mit den passenden Drinks von Julian Kunzmann bestellen möchte, oder nur ein, zwei Gänge wie „Aprikose, Kalamataolive, Brombeere“ oder „Paprika, Pfirsich, Büffelmilch“.

Wodka oder Tee dazu

Die enge Verknüpfung von Essen und Trinken gehört zum Konzept der Dessertlokale. Im ChikaLicious kann man neben einer Weinbegleitung auch das „Prime Tea Pairing“ ordern. Im The Store Kitchen im Soho House wurden am vergangenen Wochenende Cocktails wie Prosecco-Wodka mit Sorbet zu „Just Desserts“ serviert: Ein süßes Menü als Event, ein Experiment, das in der Weihnachtszeit wiederholt werden soll. „Sehr glücklich“ seien die Gäste nach Hause gezogen, sagt Ideengeberin Mary Scherpe und lacht. „Die Kombination aus Alkohol und Zucker macht sehr glücklich.“

Natürliche Süße statt Zucker

Erdbeer-Sahne-Lutscher mit wilden Beeren aus dem Hotel Café Royal.
Erdbeer-Sahne-Lutscher mit wilden Beeren aus dem Hotel Café Royal.

© Hotel Café Royal

Die Zeit ist offenbar reif dafür, das Nachspiel zur Hauptsache zu machen. Warum warten mit der Kür, bis alle satt und vom Alkohol zu benebelt sind, um die Kreationen würdigen zu können. Monothematische Restaurants liegen ohnehin im Trend, Lokale, die sich auf eine Sache konzentrieren, ob Gulasch, Knödel oder Porridge. Wie die japanischen Sushimeister: nur eine Sache, die aber richtig.

Ein ganzes Menü aus Desserts? Vielen zieht es bei dem Gedanken die Zähne zusammen. Doch Desserts sind heutzutage längst nicht mehr, was sie mal waren: plumpssüß und butterschwer. Die neuen Meister machen sich eher die natürliche Süße von Obst – und auch Gemüse wie Paprika oder Karotte zunutze. Zucker wird bei guten Desserts sehr sparsam eingesetzt, eher die herbe Note betont. Laura Villanueava Guerra, im The Store Kitchen für die Patisserie verantwortlich und für die praktisch-kreative Seite von „Just Desserts“, gibt ohnehin eine Prise Meersalz mehr in ihr Karamell; und die Sahne zum Schokokuchen beim Dessertmenü hat sie mit Kefirbakterien fermentiert.

So verschwimmen die Grenzen zwischen herzhaft und süß. Die ohnehin noch gar nicht so lange existieren. Das Dessert als eigener Gang am Ende eines Mahls ist eine relativ junge Erfindung, ein paar Hundert Jahre alt. Früher wurden herzhafte und süße Speisen bei festlichen Anlässen einfach zusammen auf die Tafel gestellt oder im munteren Wechsel serviert.

Langeweile oder Kür

Heutzutage ist das Dessert entweder gepflegte Langeweile – Panna Cotta, Tiramisu, Mousse au chocolat... – oder Kür. Der Gang, der dem Koch oder Patissier die größten Freiheiten lässt, auch beim Spiel mit Texturen, Temperaturen, Formen und Farben. Dagegen sieht Fleisch verdammt braun, Fisch ziemlich blass aus. Zudem hat die Küchentechnik sich in den letzten Jahren enorm entwickelt – inzwischen scheint fast alles möglich zu sein.

Wobei auch die Kunden experimentierfreudiger geworden sind. Und verwöhnter. Berlin, einst Hochburg des industriellen Zuckergusses, hat heute eine Vielzahl von Patisserien, die exzellente Törtchen und Dessertkreationen anbieten. Wer sich selbst in die Küche stellen will, kann aus einer Fülle anspruchsvoller Dessert- und Backbücher wählen.

Yuzu-Joghurt-Legosteine der Londoner Patissiere Sarah Barber.
Yuzu-Joghurt-Legosteine der Londoner Patissiere Sarah Barber.

© Hotel Café Royal

„Die Leute kennen sich viel besser aus“, hat auch Sarah Barber festgestellt. Die preisgekrönte Patissière ist verantwortlich für die Kreationen im nach eigenen Angaben ersten Dessertrestaurant Londons. (Was nicht ganz stimmt, es gab schon Pop-Up- und Teilzeit-Lokale.) Seit dem Frühjahr werden im Hotel Café Royal an der feinen Londoner Regent Street Menüs serviert. Wobei, eine Besonderheit, die Gäste auch solche mit ein, zwei herzhaften Gängen bestellen können, die allerdings so delikat wie ein Nachtisch daherkommen. Die Portionen in Dessertrestaurants sind klein und leicht. Sonst würde kein Mensch bis zum Schluss durchhalten.

Kindergeburtstag für Erwachsene

Laura Villanueva Guerra mit ihrem Prunkstück, dem Croquembouche.
Laura Villanueva Guerra mit ihrem Prunkstück, dem Croquembouche.

© Becca Crawford

Sarah Barbers Kreationen bewegen sich auf höchstem Niveau, zuletzt hat sie als Patissiere bei Heston Blumenthal gearbeitet, dem mit drei Sternen gekrönten Pionier der Molekularküche. Dennoch ist der energischen Mittdreißigerin der Erfolg nicht sicher. Die Enttäuschung des Gastes, gekommen in Erwartung eines besonderen Abends, ist erst mal groß: Das Dessertrestaurant ist gar kein Restaurant. Wenn man als Einziger ein Menü mit Wein bestellt in dem mit Siena-Marmor ausgekleideten Hotel-Café, umringt von Besuchern, die sich zum Tee allenfalls ein Törtchen aus der Patisserie gönnen, reduziert das den Spaß gewaltig.

Ein Dessertlokal zu eröffnen, ist eine riskante Sache. Das kann man vom „Prinzessan“ lernen: Deutschlands erstes Dessertlokal wurde nämlich nicht 2016 in Neukölln, sondern 2009 in Hamburg eröffnet, nach New Yorker Vorbild. Von Anfang an war das Lokal, über das ausgiebig berichtet wurde, allerdings auch ganz normales Café, mit Frühstück, Kakao und Kuchen. Und es schloss um 20 Uhr schon die Tür – zu einer Zeit, da die New Yorker vor dem ChikaLicious gerade Schlange stehen. Vor ein paar Jahren machte das Prinsessan wieder zu.

Schule der Knusprigkeit

Statt das eigene Konzept zu verwässern, hat das ChikaLicious lieber auf der anderen Straßenseite noch eine Bäckerei mit Cafébetrieb eröffnet. Vielleicht hätten die Hamburger das EspaiSucre in Barcelona besuchen sollen. Dort gibt es neben dem Dessert-Restaurantbetrieb auch eine Schule, wo man nicht nur Kurse zum Thema knusprig oder gelatinig belegen kann, sondern auch eins über das Entwicklung des Restaurantkonzepts.

Mit den Dessertbars ist der Nachtisch erwachsen geworden. Dabei erfüllen sie den Kindheitstraum: Süßigkeiten satt. Die Lokale, deren Besuch tatsächlich gern als Geburtstagspräsent verschenkt werden, haben was von Kindergeburtstag. „Infance (after the fall)“ nennt sich denn auch ein Gericht im „Room 4 dessert“ des New Yorkers und früheren Ferran Adrià-Mitarbeiters Will Goldfarb, in dem er unter anderem mit Marshmallow spielt. Das neben Popcorn zu den beliebten Desserzutaten der spielerischen Avantgarde gehört. In verfremdeter Form natürlich. Die Menüs von Sarah Barber, die aus Yuzu-Joghurt Legosteine baut, tragen sogar Titel wie „Sarah in Wonderland“ und „Childhood Memories“. Eine Hommage an den geliebten Großvater, einst Chefkoch im Café Hotel Royal, mit dem sie als kleines Mädchen zusammen in der Küche stand. Er war der Grund, warum sie ihren Beruf ergriff.

Und im The Store Kitchen haben sich die Gäste wie die Kinder über das pyramidenförmige Prunkstück der Desserttafel hergemacht, das Croquembouche, haben die mit Karamel überzogenen, cremegefüllten Windbeutelchen abgehackt. Am Ende zogen sie mit Doggy Bags voller Lemon-Shortbread und Macarons selig nach Hause.

Tipps für Dessertbars

Patissier René Frank in seiner Coda-Dessertbar in Kreuzölln.
Patissier René Frank in seiner Coda-Dessertbar in Kreuzölln.

© Mike Wolff

NEW YORK

ChikaLicious, 203 E 10th St, 001/212-475-0929, chikalicious.com.

NEUKÖLLN

Coda, Friedelstraße 47, 030/914 963 96, coda-berlin.com.

MITTE
The Store Kitchen im Soho House, Torstraße 1. Der Termin für das nächste „Just Desserts“ wird auf stilinberlin.de bekannt gegeben.

BARCELONA

EspaiSucre, C. Princesa 53, 00334/932 681 630, espaisucre.com.

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