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Gesundheit: Abschiedsvorlesung von Hans J. Nissen: Babylons Erbe jenseits der Großarchitektur - Politische Organisationsformen im Alten Orient

Nissen hat eine der ältesten Schriften der Menschheit entdeckt. Es waren Wirtschaftsbelege und Anweisungen an die Verwaltung in Mesopotamien.

Nissen hat eine der ältesten Schriften der Menschheit entdeckt. Es waren Wirtschaftsbelege und Anweisungen an die Verwaltung in Mesopotamien. Im vierten Jahrtausend vor Christus brauchte man für die wachsende Bevölkerung ein Ordnungsinstrument. Es ging um die Verwaltung von kleinen Gemeinwesen, später von Städten und schließlich Territorialstaaten durch Jahrtausende hindurch.

Nissen, Professor für Vorderasiatische Altertumskunde an der Freien Universität Berlin, sieht in dieser sich stetig entwickelnden und schließlich hochentwickelten Verwaltung im Vorderen Orient eine große kulturelle Leistung. Nissen, seit 1971 Professor an der FU, mehrfach Dekan seines Fachbereichs und von 1976 bis 1981 Vizepräsident, wird emeritiert und trug aus Anlass seines akademischen Abschieds ein Resümee seiner Forschungen vor, deren Schwerpunkt die Entwicklung der politischen Organisationsformen im Alten Orient war.

Vielfalt der Lösungen

Im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris habe sich ein Schatz an politischen und organisatorischen Erfahrungen gebildet, "die Eingang in das kollektive Gedächtnis fanden und weitaus länger wirksam waren als die politische Präsenz des Alten Orients", sagt Nissen.

Es waren Umweltbedingungen, das Klima und vor allem war es das Wasser, was den Menschen einmal ermöglichte zu tun, was sie getan haben, und sie danach zwang, das zu tun, was sie weiter tun mußten. Am Anfang steht der Übergang von der Existenz als Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter.

Als die Menschen die Techniken in Tierhaltung und Ackerbau verbessert hatten, konnten sie die wildreichen gebirgigen Zonen verlassen und in der - bequemeren - Ebene siedeln. Diese bot zwar, so lange der Regen fiel, Vorteile für den Pflanzenanbau, aber nicht mehr die "Vielfalt an Ressourcen" sozusagen vor der Haustür. "Eine Falle" nennt Nissen das; denn von nun an mussten alle Probleme, die der Erzeugung von Nahrung oder die des Zusammenlebens immer größerer Gruppen, anders gelöst werden als bisher. Man konnte nicht mehr auf das zurückgreifen, was die Natur dem Jäger und Sammler reichhaltig geboten hatte, man konnte sich auch nicht einfach räumlich von nicht genehmen Menschen entfernen: Felder mit domestizierten Pflanzen und Herden domestizierter Tiere erforderten längere Anwesenheit an einem Ort - die Sesshaftigkeit wurde zwangsläufig.

Man musste andere Lösungsen suchen: Für die Nahrungsbeschaffung hatten die Bewohner die angewandten Techniken zu verbessern. Der Bedarf an Fläche, die für die Ernährung eines Menschen nötig war, ging zurück. So konnten die landwirtschaftlichen Nutzflächen die die Siedlungen umgaben, kleiner werden; die Siedlungen rückten näher zueinander. Sie traten in Beziehungen zueinander. Auch diese Beziehungen mussten geregelt werden. Dadurch, so Nissen, habe man sich aber immer mehr in Abhängigkeit begeben. Die Konflikte, die durch das Zusammenleben entstanden, erforderten immer neue Regeln.Für Nissen ist die Vielfalt der ausprobierten politischen und organisatorischen Lösungen das "eigentliche Erbe Mesopotamiens an die folgenden Zeiten". Diejenige Siedlung, in der die zentralen Funktionen des Kultes, der Verwaltung und der politischen Führung konzentriert waren, gewann eine gewisse Vorrangstellung. Durch den Ausbau zentraler Orte konnten Spezialberufe entstehen, für die in kleineren Siedlungen die Kunden gefehlt hätten.

Vom 6. bis in die Mitte des 4. vorchristlichen Jahrtausends blieb diese gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung mehr oder weniger gleich. Und dann entstand Babylonien, das Staatsgebilde und damit das, was wir unter "Frühe Hochkultur" bezeichnen: Es gab die ersten Großstädte mit monumentalen Bauten, ein komplexes Wirtschafts- und Sozialsystem und vor allem die Schrift.

Warum gerade hier und zu dieser Zeit? Nissen beantwortete diese Frage mit dem Hinweis auf einen Klimawechsel. Von warm und feucht zu kühl und trocken. Die Niederschläge wurden weniger, die Überschwemmungen blieben aus, der Meeresspiegel sank im Verlauf der nächsten 1500 Jahre um rund sechs Meter. Mehr Siedlungsland stand zur Verfügung und wurde genutzt. In der zweiten Hälfte des 4. vorchristlichen Jahrtausends hatte binnen kurzer Zeit die Zahl der Siedlungen um das Zehnfache zugenommen. Mehr Menschen, größere Siedlungen, mehr Probleme und der Zwang, neue Organisations- und Kontrollmöglichkeiten zu schaffen waren die Folgen. Die Texte aus dieser Zeit sind noch nicht deutbar. Eine Liste von Titeln und Berufsnamen zeigt aber, dass die Verwaltung in einzelne Bereiche aufgeteilt war und dass unter den Verwaltungsressorts die Rechtsprechung an vorderster Stelle steht.

Die organisatorischen Fähigkeiten waren bereits hoch entwickelt, als die Notwendigkeit eintrat, sie für die Lösung neuer Konflikte einzusetzen: Das Wasser wurde weniger. Es fielen geringere Niederschläge, es gab weniger Überschwemmungen, die Felder drohten auszutrocknen. Da wurden die Bewässerungskanäle gebaut. Nissen betont, daß die frühe Hochkultur nicht eine Folge des Kanalbaus war, sondern ihre Voraussetzung.

Städtebau in der Nähe des Wassers

Die Bevölkerung wuchs. Immer mehr Städte entstanden. Sie entstanden in der Nähe des Wassers, des Euphrats. Die für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einzugsgebiete stießen aneinander, überlappten sich, Grenzstreitigkeiten wurden zu Dauerkonflikten. Ein Zentralstaat unter der Dynastie von Akkad bringt um 2350 vorübergehende Lösung. Er endet nach vier Generationen. Wieder gibt es Stadtstaaten, wieder gibt es danach einen temporären Zentralstaat am Ende des 3. Jahrtausends unter der III. Dynastie von Ur. Erst im 18. Jahrhundert vor Christus setzt sich unter Hammurapi endgültig der Zentralstaat durch.

Da alles vom Wasser abhängig ist, werden die Abzweigungen im weitverzweigten Kanalsystem zu Kontrollstellen und die dort liegenden Städte mächtig. Für die Beschaffung lebensnotwendiger Rohstoffe, woran es dem Lande mangelte, war wiederum ein außenpolitisch starker Zentralstaat effektiver.

Folgt man dem Bogen, den Nissen weit über die Jahrtausende spannte, könnte man verkürzt sagen, dass Machtkämpfe, Eroberungen durch fremde Staaten die Zwänge von Veränderungen der Umwelt abgelöst haben. Babylonien, Assyrien, das Reich von Mittani mussten auf andere Herausforderungen reagieren, um neue Konflikte zu bewältigen. Durch den Zwang, innerhalb eines vorgegebenen Rahmens immer wieder neue Ansätze zu finden, habe sich die mesopotamische Kultur, speziell in Babylonien, in hohem Maße Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erworben. Daher sei es gelungen, "ihr politisches aber auch geistiges Erbe ohne große Brüche über die Achämeniden an die Parther, Sasaniden und die frühislamischen Reiche, aber auch an das Römische Reich - und damit auch an uns - weiterzugeben".

Wolfgang Lehmann

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