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Gesundheit: Abwehrkraft aus Möhrensaft

Mit Hilfe der Gentechnik lassen sich aus Pflanzen Arzneien und Impfstoffe gewinnen

Wenn es Zeit ist, dass ihre Tochter die fällige Impfung gegen Kinderlähmung erhält, geht Frau A. in den Gemüsegarten und holt Möhren aus einem besonders markierten Beet. Die Karotten werden geschält, gekocht und an das Kleinkind verfüttert. Eine Blutentnahme beim Kinderarzt einige Wochen später zeigt, dass das Mädchen in hoher Konzentration Antikörper gegen das Poliomyelitisvirus gebildet hat. Eine Impfung ist nicht mehr nötig. Arzt und Mutter sind zufrieden – die Pharmaindustrie hat das Nachsehen.

Der beschriebene Vorgang bleibt wohl vorerst Fiktion. Realität ist dagegen schon, dass genmanipulierte Pflanzen in der Lage sind, Eiweiße und komplexe Zuckermoleküle von krankheitserregenden Mikroorganismen nachzubilden. Nimmt man sie auf, erkennt sie das Immunsystem als Antigene.

„Molecular farming ist der Anbau und die Ernte definierter Eiweißmoleküle in Pflanzen, und zwar in großen Mengen und zu einem konkurrenzlos günstigen Preis“, sagt Rainer Fischer, Molekularbiologe bei der Frauenhofer-Gesellschaft. Seine Forschergruppe aus dem nordrhein-westfälischen Schmallenberg ist weltweit führend auf einem Gebiet, in dem sich Pharmazie, Botanik, Landwirtschaft und Molekularbiologie gegenseitig durchdringen. Die Forscher haben bislang die genetische Information von rund 150 Eiweißen in verschiedene Pflanzen übertragen. Die transgenen Pflanzen – vom Tabak bis zur Möhre – stellen dann die neuen Proteine zusätzlich zu den eigenen Eiweißen und Kohlehydraten her und reichern sie in Blättern oder Wurzeln an.

Warum Pflanzen unter wirtschaftlichen Aspekten als Impfstofflieferanten geeignet sind, lässt sich leicht beantworten. Sonnenlicht, Kohlendioxid, Wasser und einige Mineralien reichen aus, um diese Bioreaktoren zu betreiben. Hochkomplizierte Apparaturen und aufwendige pharmazeutische Synthesetechniken werden überflüssig. Nach Berechnungen von Stefan Schillberg vom Institut für Botanik und Molekulargenetik der RWTH-Aachen, ist es zehn- bis 50-mal kostengünstiger, Arzneistoffe durch Biomolekülanbau zu gewinnen als in den derzeit üblichen Bakterien- oder Zellkulturen.

Aber auch unter medizinischen Gesichtspunkten bestechen die grünen Impfstofflieferanten. Sind die Antigene in ausreichend großer Konzentration vorhanden, so entfällt eine aufwendige Reinigung der Impfstoffkomponenten, Ampullen oder Spritzen werden überflüssig. Man isst die Frucht oder trinkt ihren Saft, und der Immunisierungsprozess wird in Gang gesetzt.

Ein weiterer Vorteil der neuen Generation von „Medizinalpflanzen“ liegt auf der Hand. Häufig bekommen Eiweiße nach der Übersetzung der DNS-Codes in eine Aminosäurefrequenz noch einen zusätzlichen Schliff. Beispielsweise werden bestimmte Aminosäuren von Enzymen herausgeschnitten oder Proteinbruchstücke miteinander kombiniert. Das endgültige Eiweißmolekül faltet sich dann neu und kann so auch erst seine eigentliche Funktion wahrnehmen.

Dass die Technik des „Molecular farming“ längst den Kinderschuhen entwachsen ist, zeigten Forscher der Fraunhofer-Gesellschaft und der RWTH Aachen kürzlich am Beispiel des Antikörpers gegen das Karzinoembryonale Antigen (CEA). Dieses Eiweiß ist auf der Oberfläche von vielen Krebszellen zu finden und dient dem Arzt als Tumormarker, mit dem er einen versteckten Krebs nachweist. Dazu werden große Mengen künstliche Antikörper gegen das Krebseiweiß benötigt, die bislang nur durch konventionelle Biotechnologie gewonnen werden konnten. Die Pflanzenpharmazeuten führten vor, dass Antikörper gegen das Antigen CEA genauso gut in transgenem Tabak und Reis hergestellt werden können. Rund 30 Mikrogramm Antikörper pro Gramm Blatt oder Korn produzierten die transgenen Pflanzen. Dies entspricht etwa 0,1 Prozent der gesamten löslichen Proteinmenge einer Pflanzenzelle.

Doch damit waren die Forscher noch nicht zufrieden. Sie bastelten einen Antikörper, der nur aus den variablen Domänen einer leichten und einer schweren Antikörperkette bestand. Auch dieses Konstrukt stellten transgene Pflanzen in optimaler Qualität her. Solche „Einzelketten-Antikörper“ sind für die Tumordiagnostik wesentlich besser geeignet als der ursprüngliche, deutlich größere Antikörper, der natürlicherweise nach Stimulation des Immunsystems mit dem Antigen CEA entsteht. Die kurzen Varianten verteilen sich schneller und besser im Gewebe. Sie können Tumorzellen besser aufspüren und durch bildgebende Verfahren sichtbar machen als die klassischen in der Tumordiagnostik bislang eingesetzten Antikörper.

Carol O. Tacket und ihre Kollegen von der University of Maryland in Baltimore in den USA haben gezeigt, dass transgene Pflanzen auch für eine aktive Immunisierung genutzt werden können. Die Forscher implantierten in Kartoffeln das Gen für das „Enterotoxin“ des Darmbakteriums Escherichia coli – einen Giftstoff, der schwere Durchfälle verursachen kann. Sie beschränkten sich dabei auf die LT-B genannte Komponente des Enterotoxins. Das LT-B-Molekül aktiviert das Immunsystem ohne – wie es das komplette Giftmolekül macht – eine Erkrankung zu verursachen. Das Immunsystem reagiert dann mit der Bildung von Antikörpern, die den Giftstoff neutralisieren. Und genau dies passierte auch, wenn Testpersonen die gentechnisch veränderten Kartoffeln aßen, in denen das LT-B Element von der Pflanze hergestellt wird. Selbst nach dem Kochen war noch die Hälfte der ursprünglichen Antigenkonzentration vorhanden. Da Kartoffeln nicht jedermanns Geschmack sind, arbeiten die Forscher derzeit an einer transgenen Banane als Impfstoff gegen E. coli induzierte Diarrhoe.

Forscher der Uni Gießen berichteten kürzlich, dass es ihnen gelungen sei, Möhren den genetischen Code für das Oberflächenantigen S des Hepatitis B-Virus einzupflanzen. Dieses Antigen ist der Inhaltsstoff des Impfstoffs gegen die infektiöse Gelbsucht. Möhren mit dem genetischen Code für das Hepatitis-S-Antigen lassen sich leicht in großer Zahl herstellen. Innerhalb von drei Monaten hätten die Wurzeln so viel des Fremdproteins synthetisiert, dass eine Impfung durch den Verzehr der transgenen Pflanzen möglich sein müsste, sagt Jafargholi Imani, der die Forschergruppe in Gießen leitet.

Allerdings hat die schöne neue Welt der Pflanzenpharmazeuten einen nicht zu vernachlässigenden Haken. Die transgenen Arzneipflanzen müssen separat von ihren natürlichen Verwandten kultiviert werden, um eine Ausbreitung der transplantierten Fremdgene zu vermeiden. In Freilandkulturen dürfte das wohl kaum möglich sein. Der Anbau müsste erst einmal in speziell hergerichteten Gewächshäusern betrieben werden, was wiederum die Kosten erhöht.

Hermann Feldmeier

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