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Gesundheit: Agnes Heller: Die Erinnerung der Kinder Kains an das Opfer Abel

Es ist die zweite Geschichte der Bibel, und es ist die erste sinnlose Geschichte: Der Brudermord von Kain an Abel. Nicht für die Bibel, nicht für den Plan Gottes hatte dieser Mord einen Sinn.

Es ist die zweite Geschichte der Bibel, und es ist die erste sinnlose Geschichte: Der Brudermord von Kain an Abel. Nicht für die Bibel, nicht für den Plan Gottes hatte dieser Mord einen Sinn. Es ist die Urgeschichte von Opfer und Täter, die von der ersten freien Wahl zwischen Gutem und Bösem erzählt. Das Böse wurde gewählt, aber hatte keinen Sinn. Die Sünde von Adam und Eva hingegen - wenn es denn eine Sünde war - machte Sinn: ohne diese Tat gäbe es keine Geschichte, keine Menschheit, keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen.

Die ungarische, jüdische Philosophin Agnes Heller erzählte in der Mosse-Vorlesung der Humboldt-Universität von der Bibel, um über die Erinnerung zu sprechen. Die Erinnerung an den Holocaust. Wir sind die Kinder Kains. Abel hat kein Geschlecht hinterlassen. Doch in der Erinnerung identifizieren wir uns mit Abel, nicht mit unserem Urvater Kain. Etwas ähnliches, so Heller, könnte mit dem Holocaust geschehen, ja sei teilweise bereits geschehen: "Die Juden werden sich immer mit den Opfern identifizieren, sie waren Abel, sie waren die Opfer. Doch auch die Nachkommenschaft aller Völker, auch der Völker der Täter, werden sich in der Erinnerung mit den Leiden der Opfer identifizieren."

Die authentische Erinnerung an den Holocaust ist die Erinnerung an sinnloses, unerträgliches Leiden. Authentische Erinnerung, das bedeutet für Agnes Heller Gleichzeitigkeit: "Ich erinnere mich, das heißt, es ist jetzt, ich erlebe es, als ob es in diesem Augenblick geschieht." Sich so an den systematischen Massenmord zu erinnern, ist unmöglich, es hieße zu sterben - unerträgliches Leiden kann man nicht ertragen.

Doch wie können, wie müssen wir, die Kinder der Opfer und Täter, den Holocaust erinnern? Historisch seine Ursachen zu erforschen, könne zwar wichtig sein, antwortete Heller, doch wir müssen wenigsten versuchen, uns einer authentischen Erinnerung anzunähern. Damit haben wissenschaftliche Erklärungen wenig zu tun. "Auschwitz ist ein Symbol", erläuterte sie, "für Furcht und unerträgliches Leiden."

Keine Darstellung, keine Repräsentation des Holocaust ist so stark wie das Wort Auschwitz. In der Erinnerung ist keine Generation entfernter von Auschwitz als die andere, alle Generationen sind und bleiben Zeugen. Genau das, so Heller, sei das wohlbekannte Merkmal aller Mysterien: "Man kann den Holocaust als quasi-religiöses mythisches Ereignis verstehen." Ein Mysterium allerdings, das sinnlos ist. Gott war da, in Nietzsches Sinn, schon tot.

Ob wir als Nachkommen der Täter oder der Opfer geboren wurden, ist zufällig. "Im Gedächtnis kann man auch für etwas Verantwortung tragen, das man nicht getan hat, aber hätte tun können", sagte Heller. Wie jedes Jahr am Sederabend des Passahfestes der Vertreibung der Juden aus Ägypten gedacht wird, so müssen auch wir immer wieder die sinnlose Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählen. Um uns zu erinnern, nicht authentisch, denn das ist unmöglich, doch in dem Versuch, uns einer authentischen Erinnerung anzunähern.

"Ich will meine Toten nicht vergessen", sagt Agnes Heller. Diese persönliche Art des Erinnerns und seine Beziehung zum kollektiven, kulturellen Erinnnern bilden den Ausgangspunkt ihres Denkens über den Massenmord. Agnes Heller wurde in Budapest geboren. Als der Holocaust vorbei war, war sie 14 Jahre alt. Sie blieb in Budapest, wurde Zionistin für zwei Jahre, danach Kommunistin, schließlich eine Oppositionelle des ungarischen Regimes, die 1977 nach Australien emmigrierte. Heute lebt sie in Budapest und New York, wo sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research ist.

Die Philosophie lernte sie in Budapest bei György Luka¿cs kennen. Zunächst wollte sie Physikerin werden. Eines Tages bat sie ihr damaliger Freund, ihn zu einer Vorlesung von Luka¿cs zu begleiten. Sie protestierte, Philosophie interessierte sie nicht, aber ging schließlich doch mit. "Ich saß in der Vorlesung und habe gar nichts verstanden, nur dass ich es verstehen wollte, dass es das wichtigste war." Sie gab die Physik auf, begann Kant, Hegel und Spinoza zu lesen, sie wurde Schülerin von Luka¿cs. "Wenn ich mich heute frage, ob ich auch etwas anderes hätte werden können als Philosophin", sagt Agnes Heller, "dann fürchte ich mich und zittere."

Sibylle Salewski

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