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Gesundheit: Als käme gleich der Alte Fritz vorbei

Nicht einmal 20 Minuten von Berlin entfernt: Am Neuen Markt in Potsdam ist ein einzigartiges Zentrum der Geisteswissenschaften entstanden

Wie muss man sich das vorstellen, damals, vor 250 Jahren? Aus dem Kutschstall drang das Schnauben der Pferde, wenn sie vor die Wagen gespannt wurden, es roch nach Fell, Stroh und Leder. Bauern fuhren mit ihren Karren herbei, um auf der königlichen Zollwaage mitten auf dem Platz ihre Mehlsäcke wiegen zu lassen, und rumpelten dann zum Alten Markt weiter, um sie zu verkaufen. Die Kutscher stießen ihre sprichwörtlichen Flüche aus, auf Deutsch, während Kronprinz Friedrich Wilhelm, der mit seinem Vertrauten über den Platz wandelte, Französisch parlierte. Leise war es auf dem Neuen Markt in Potsdam vermutlich nicht.

Und heute? Es ist still hier und sehr schön, auf diesem Platz, der im 17. Jahrhundert angelegt wurde und seine heutige Gestalt unter Friedrich dem Großen erhielt. „Nur in ganz wenigen Ecken in Potsdam ist die Zeit so gefroren geblieben“, schrieb der Schriftsteller und Flaneur Georg Hermann im Jahre 1929. Die prächtigen Fassaden strahlen gelb, weiß und rosa in der Sonne, über das Kopfsteinpflaster rollt nur gelegentlich ein Auto, in der Mitte des Platzes wartet das Restaurant „Die Waage“ auf Besucher. Doch viele Touristen laufen am Neuen Markt, dem einzigen noch annähernd vollständig erhaltenen Stadtplatz des 18. Jahrhunderts in Potsdam, einfach vorbei, weil er versteckt hinter dem Filmmuseum liegt.

Hier zu arbeiten: ein Privileg

Doch es hat sich viel getan in den letzten Jahren: Der Neue Markt, der niemals ein Markt war, ist zu einem Zentrum der Geisteswissenschaften geworden. Ein Institut nach dem anderen hat sich angesiedelt, zuletzt Anfang 2004 das Forschungszentrum Europäische Aufklärung. Im Dezember 2003 eröffnete im ehemaligen Kutschstall das „Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte“ mit einer Ausstellung von 900 Jahren Landesgeschichte. Damit ist das „Forum Neuer Markt“ mit acht Institutionen komplett. „Die Nachbarschaft ergibt eine ganz eigene Atmosphäre“, schwärmt Brunhilde Wehinger vom Aufklärungszentrum. „Man trifft sich auf dem Weg zum Mittagessen und schon hat man eine Idee.“ Für Matthias Kross vom Einstein Forum ist es „jedes Mal ein erhebendes Gefühl“, auf den Platz zu kommen. Hier arbeiten zu dürfen: ein Privileg.

Julius Schoeps hat das Werden des Neuen Markts miterlebt. Der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums sitzt in seinem Büro im ersten Stock des lachsfarbenen Barockhauses mit der Hausnummer 8 und blickt auf den Platz hinunter. 1996 ist sein Institut hier eingezogen, kurz nach dem benachbarten Einstein Forum. „Hier war nichts“, sagt er und deutet mit ausladender Geste auf den Kutschstall mit seiner Quadriga und die anderen Gebäude, die Anfang der neunziger Jahre baufällig und heruntergekommen waren – inzwischen sind sie restauriert und frisch gestrichen. Schoeps lobt die Weisheit der Brandenburger Landesregierung, die, trotz Finanznöten und unter wechselnden Ministern, an dem Plan festgehalten hat, hier ein Forum der Geisteswissenschaften zu etablieren. Von Berlin aus ist es leicht zu erreichen: 17 Minuten mit der Regionalbahn vom Bahnhof Zoo und fünf Minuten zu Fuß.

Hier also arbeitet der Geist. Im Kabinetthaus, in dem wahrscheinlich Kronprinz Friedrich Wilhelm und Wilhelm von Humboldt geboren wurden, versetzen sich die rund 30 Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in den Kalten Krieg und die DDR zurück: Sie bearbeiten Projekte zu „Deutschland und Europa im Systemkonflikt“, angefangen mit Berufsverboten in der DDR bis zur sowjetischen Filmpolitik. Nebenan plant Hanna Nogossek, Direktorin des Deutschen Kulturforums Östliches Europa, die Konferenz „Literarisches Breslau“, die in Breslau selbst stattfinden soll. Das Forum organisiert im Bundesgebiet und in den osteuropäischen Ländern Veranstaltungen zur Geschichte jener Gebiete im östlichen Europa, in denen früher Deutsche gelebt haben oder noch leben. Im leuchtend gelben Bürgerhaus mit der Hausnummer 7 telefonieren Rüdiger Zill und andere Mitarbeiter des Einstein Forums die Teilnehmer für die nächste internationale Tagung zusammen.

Quer über den Innenhof des Moses Mendelssohn Zentrums mit seiner öffentlich zugänglichen Bibliothek, in einem modernen Gebäude, sitzt Jacqueline Karl vor einer digitalisierten Handschrift von Immanuel Kant. Sie versucht zu ergründen, welche Sätze der große Geist auf seinem wirr anmutenden Manuskript in welcher Reihenfolge geschrieben hat: eines von fünf Langzeitvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die in Potsdam angesiedelt sind.

Mit der neuen Ausstellung zur Geschichte Brandenburg-Preußens im Kutschstall soll der Neue Markt auch zu einem touristischen Anziehungspunkt werden: „Wir wünschen uns, dass Touristen die Stadt nicht nur durchwandern, um nach Sanssouci zu kommen, sondern dass sie auch in der Stadt verweilen“, sagt Thomas Wernicke, der stellvertretende Leiter des Museums. Aber das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte hat seit seiner Eröffnung nicht nur mehr als 11 000 Besucher angelockt, es kooperiert auch mit den wissenschaftlichen Institutionen vor Ort – und stellt ihnen seinen geräumigen Konferenzsaal zur Verfügung.

Aufklärer im Pferdelazarett

Die Zusammenarbeit zwischen den Instituten sollte locker, punktuell sein, meint Eberhard Lämmert, der Berliner Germanist, der als Kuratoriumsvorsitzender zehn Jahre lang die Geschicke des Einstein Forums mitbestimmt hat und nun im Kuratorium des Forschungszentrums Europäische Aufklärung sitzt. Gerne erinnert er sich an die „euphorische Stimmung des Aufbruchs“ in Potsdam Mitte der Neunziger. Nun ist eine neue Phase angebrochen. Gemeinsame Projekte, Tagungen, Vortragsreihen – Ideen dazu entstehen leicht, wenn man so nah beieinander sitzt. Im Herbst etwa veranstaltete das Zentrum Zeithistorische Forschung eine Vortragsreihe „Potsdam in Europa“, an der sich fast alle Institutionen auf dem Neuen Markt beteiligten. Das Moses Mendelssohn Zentrum feiert zusammen mit dem Deutschen Kulturforum Östliches Europa in diesen Tagen den 100. Geburtstag des Tenors Joseph Schmidt und veranstaltet zusammen mit der Leibniz-Edition der Akademie die Tagung „Leibniz’ Stellung zum Judentum“, die Ende März im Kutschstall stattfinden wird. Auch das Filmmuseum beteiligt sich: In der kommenden Woche etwa beginnt eine französische Filmreihe „Von Ridicule bis Revolution“, Teil einer Reihe des Forschungszentrums Europäische Aufklärung zu Politik, Kunst und Mode im 18. Jahrhundert.

Die Aufklärungsforscher sitzen im Hof hinter dem Kutschstall, dort, wo die einstige Manege, Schmiede und die Reithalle stehen. Hier wird noch gebaut und gezimmert: Das Land entwickelt zusammen mit privaten Bauträgern das Gelände, Wohnungen sollen entstehen und Restaurants. Domizil der Forscher sind ein Neubau und das ehemalige Pferdelazarett; die Bibliothek befindet sich, zusammen mit der der Zeithistoriker, in der ehemaligen Reithalle. Besucher können dort ihre Bücher in der „Königsloge“ einsehen, wo Friedrich einst seinen Pferden zusah. Der preußische König ist hier allgegenwärtig: Günther Lottes und Brunhilde Wehinger geben die Schriften Friedrichs des Großen in zwölf Bänden heraus – auf Deutsch und auf Französisch, denn der Roi Philosophe schrieb, wie die Gelehrten seiner Zeit, in der Sprache seines persönlichen Aufklärers, Voltaire. Gerade für die Aufklärungsforscher ist die Lage am Neuen Markt ein Glücksfall, sagt Günther Lottes. Denn die Forscher haben die Epoche, der sie sich wissenschaftlich widmen, architektonisch stets vor Augen: Als käme der Alte Fritz gleich vorbei.

Am Freitag, dem 19. März, zeigt das Filmmuseum den Film „Ridicule“ (mit Fanny Ardant), mit Podiumsdiskussion „Die Faszination von Geschichte und Geschichten im französischen Kino“ (19.30 Uhr). Am 15. Mai veranstalten die Institutionen des Neuen Markts einen „Tag der offenen Tür“.

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