zum Hauptinhalt

Gesundheit: Altersleiden: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, ihre Betreuung ist mitunter unzulänglich

Kurz vor Weihnachten hatte sich die junge Frau aus München auf den Weg nach Berlin gemacht, obwohl sie - berufstätig, ein Kind - alle Hände voll zu tun hatte. Sie wollte unbedingt nach ihrer 91-jährigen Großmutter sehen.

Kurz vor Weihnachten hatte sich die junge Frau aus München auf den Weg nach Berlin gemacht, obwohl sie - berufstätig, ein Kind - alle Hände voll zu tun hatte. Sie wollte unbedingt nach ihrer 91-jährigen Großmutter sehen. Die alte Dame war in ihrer Wohnung noch ganz gut allein zurecht gekommen - bis sie eines Tages stürzte. Im Krankenhaus erholte sie sich trotz guter medizinischer Behandlung nicht von ihren Verletzungen, blieb bettlägerig und wurde schließlich ins Pflegeheim eingewiesen. Es war das "nächstschlechteste Heim", wie die Enkelin sofort merkte, als sie das Häufchen Elend im Bett liegen sah und die Decke hob: wund gelegen. Überall Druckgeschwüre, "Dekubitus", eine oft nicht vermeidbare Folge der Bettlägerigkeit, mitunter aber auch eine Folge von Fehlern bei der Pflege.

Die schwierige Situation Pflegebedürftiger und die Frage, wie man sie verbessern kann, war jetzt Gegenstand der bundesweiten Expertentagung über "Verbraucherschutz im Pflegemarkt", zu der die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) nach Berlin geladen hatte. Wer pflegebedürftig wird - und das kann jedem passieren -, der braucht Schutz und Fürsorge in besonderem Maße, sagte AgV-Geschäftsführerin Anne-Lore Köhne. Denn Menschen in dieser Lage fehlt die nötige Kompetenz und Tatkraft, um sich selbst zu schützen. Sie brauchen also fachliche Beratung und Unterstützung, möglichst unabhängig von Anbietern und Kostenträgern der Pflege. Deshalb haben die Verbraucher-Organisationen nun begonnen, eine Strategie zur Stärkung der Rechte Pflegebedürftiger zu entwickeln und sich für mehr Transparenz auf dem "Pflegemarkt" einzusetzen.

Mit der steigenden Lebenserwartung wird auch die Zahl der Alters-Pflegebedürftigen steigen, sagte der Dortmunder Gerontologe Gerhard Naegele. Leistungen nach dem Pflegegesetz von 1995 erhalten zurzeit etwa 1,8 Millionen Einwohner. Beim Bundesgesundheitsministerium schätzt man, dass es im Jahre 2030 etwa 2,6 Millionen werden könnten, mit entsprechenden Folgen für die Beiträge zur Pflegeversicherung. Die zeigt nach Naegele Lücken und Mängel.

Zum Beispiel gelten nach dem Gesetz zwar auch Altersverwirrte als pflegebedürftig, sind aber trotzdem von den Leistungen praktisch ausgenommen. Vor allem aber ist die Qualität der Pflege nicht immer gewährleistet. Das hängt im Grunde damit zusammen, dass unsere Gesundheitsversorgung sich noch nicht genügend an dem neuen Schwerpunkt Altersleiden orientiert, meint Naegele. Als wesentliche Voraussetzung der notwendigen "Geriatrisierung" nannte er die Stärkung der Geriatrie und der Pflegewissenschaften an den Hochschulen.

Qualitätsmängel sind auch auf die Sparzwänge zurückzuführen, außerdem auf die Preis-Konkurrenz zwischen den Pflegeanbietern. Manche haben zwar Qualitätssiegel als Werbeargument entdeckt. Zertifikate sind aber nicht sehr aussagekräftig, denn, so Naegele: "Noch immer fehlen speziell in der Pflege bundesweit anerkannte Mindeststandards und geeignete Instrumente zu ihrer Durchsetzung."

Die häusliche Pflege hat nach dem Gesetz Vorrang. Sie wird zu drei Vierteln von den Angehörigen - meist Frauen - bewältigt. Deren Leistungen können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber sie brauchen fachliche Hilfe, sagte Ingrid Kollak (Alice Salomon-Fachhochschule Berlin). Quantitativ reicht das Angebot zum Beispiel in Berlin aus. Aber der Anteil der Fachkräfte unter den hauptberuflichen Pflegekräften ist in Berlin mit nur 38,7 Prozent am niedrigsten (Bundesdurchschnitt: 52,5 Prozent).

Warum ausgebildete Schwestern und Pfleger oft nicht gern ambulant pflegen, erfuhr der Tagesspiegel im Pausengespräch mit Studierenden des Aufbaustudienganges Pflegemanagement dieser Fachhochschule: Sie fühlen sich frustriert, weil sie in den Wohnungen unter Zeitdruck und schlechteren als den klinischen Arbeitsbedingungen die Hilfsbedürftigen längst nicht so gut versorgen können, wie sie das möchten.

Das Pflegeversicherungs-Schema F steht dem ebenfalls entgegen. Ingrid Kollak, die sich auch mit der häuslichen Pflege im Ausland befasste, lobte die niederländische "Pflege nach Maß", weil sie sich statt am Angebot an den Bedürfnissen der Zielpersonen orientiert. Neben individuellen Pflegekonzepten, einer besseren Aus- und Fortbildung und einer sorgfältigeren Ermittlung der Pflegebedürftigkeit forderte sie Transparenz des "Pflegemarktes" als Voraussetzung für den Verbraucherschutz.

Die vor 25 Jahren gesetzlich eingeführte Heimaufsicht hat die Zahl der Klagen über Missstände nicht verringert, hieß es auf der Tagung. Zwei geplante Gesetze sollen jetzt Abhilfe schaffen: das Pflegequalitätssicherungsgesetz und eine Novelle des Heimgesetzes. An beiden Entwürfen wurde aber wegen ihrer Halbherzigkeit heftige Kritik geübt.

Die Argumente bündelte Thomas Isenberg, Gesundheitsreferent der AgV: Die staatliche Heimaufsicht, die als einzige Instanz das Recht hat, unmittelbare Gefahren abzuwehren, Anordnungen zu treffen und notfalls auch Heime zu schließen, soll zwar durch das novellierte Heimgesetz gestärkt werden. Aber es ist fraglich, ob die Bewohner dann besser geschützt sind. Denn Prüfungen der Heime sind auch künftig nur einmal im Jahr vorgeschrieben. Und selbst sie können entfallen, wenn der Betreiber Zertifikate unabhängiger Sachverständiger vorlegt.

Aber es gibt schon heute ein solches Dickicht von Zertifikaten, TÜV-Plaketten und Gütesiegeln, dass kein objektiver Vergleich der Qualität von Pflegeangeboten möglich ist. Das neue Gesetz zur Qualitätssicherung der Pflege soll zwar einen Mindeststandard gewährleisten, legt aber keine bundeseinheitlichen Qualitätskriterien fest. Und zusätzliche Mittel für die Verbesserung der personalintensiven Pflege sieht der Entwurf auch nicht vor.

Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände fordert überdies, die Pflegekassen gesetzlich zu verpflichten, unabhängige Beratungsstellen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu unterstützen. Damit sie sich nicht hilflos im "Dschungel des Pflegemarktes" verirren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false