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Gesundheit: Auf der Suche nach der Ursprache

Radikale Linguisten wollen unsere frühesten Wörter rekonstruieren – und profitieren von der Evolutionsgenetik

Stufe um Stufe wuchs der Turm in den Himmel – und Gott wusste: Wenn er jetzt nicht einschritte, würde den Emporkömmlingen auf der Erde „nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen“. Also fuhr er hernieder und raubte den Menschen die Grundlage ihrer Handlungsfähigkeit: ihre gemeinsame Sprache. Der Effekt war überwältigend: Weil niemand mehr den anderen verstand, liefen die Turmbauer auseinander und ließen ihr Werk unvollendet.

So überliefert das 1. Buch Mose eines der ältesten Dokumente der Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Sprachvermögen: den Mythos vom Turmbau zu Babel. „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache“, so der erste Vers, den Bibelexegeten bis ins 16. Jahrhundert wörtlich nahmen: Er diente ihnen als Beleg für den Ursprung aller Sprachen im Hebräischen. Auch als die Linguistik keine Domäne der Theologen mehr war, blieben wissenschaftliche Erörterungen zum Ursprung der Sprachen so spekulativ und widersprüchlich, dass im 19. Jahrhundert die Britische Akademie und die Französische Linguistische Gesellschaft das Thema kurzerhand aus ihrem Debattenkanon verbannten. Auch die Blüte der Linguistik im 20. Jahrhundert brachte kaum neue Erkenntnisse zum Ursprung der Sprachen: Noch in den 1970er Jahren erklärte der US-amerikanische Starlinguist Noam Chomsky, die Sprachevolution liege „derzeit jenseits ernsthafter Forschung“.

Grundlegend gewandelt hat sich diese Situation erst mit der Welle evolutionärer Forschung, die nach ihrem Siegeszug durch die Biologie in den 90er Jahren auch die Linguistik erfasste. Kurioserweise nähert sich die Sprachforschung seitdem wieder dem biblischen Babel-Mythos an: Zwar hat das Hebräische als Projektionsfläche ausgedient, doch die Suche nach einem Ur-Idiom wird heute nachdrücklicher betrieben denn je.

Moderne Sprachtheoretiker, die bei dieser Suche Erkenntnisse der Genetik einbeziehen, stoßen dabei oft auf den Widerstand traditioneller Linguisten. Zu den Radikalinskis des Fachs gehören vor allem der unabhängige US-Linguist Merritt Ruhlen und sein 2001 verstorbener Mentor Joseph Greenberg. Die von ihnen entwickelte Methode des „lexikalischen Massenvergleichs“ ähnelt oberflächlich der klassischen vergleichenden Sprachforschung: Um etwa eine Verwandtschaft des Spanischen mit dem Italienischen zu belegen, suchen traditionelle Linguisten in beiden Sprachen zunächst nach verwandten Wörtern wie „dedo“ und „dito“ (Finger), die eine gemeinsame Abstammung vom lateinischen „digitus“ nahelegen. Komplett ist diese Art der Beweisführung traditionell aber erst mit der Entschlüsselung der jeweiligen Lautverschiebungsgesetze, nach deren Regeln sich die lateinischen Originalwörter zu ihren spanischen und italienischen Nachfolgern entwickelt haben.

Ruhlen und Greenberg scheren sich nicht um Lautwandelgesetze. Ihnen reicht der systematische Abgleich von Wortähnlichkeiten, um zwischen Sprachen auf rein statistischer Basis Verwandtschaften zu konstatieren – und einen gemeinsamen Vorgänger zu postulieren, auch wenn es für den keine Belege mehr gibt. So können Sprachen zu Familien und diese zu Überfamilien zusammengefasst werden, bis an der Wurzel eines verzweigten Sprachenbaums schließlich das aufscheint, was Ruhlen die „Protosprache“ nennt – einen gemeinsamen Vorläufer aller heutigen Sprachen. Ruhlen ordnet diesem verschollenen Ur-Idiom sogar hypothetische Wortwurzeln zu – darunter das Protowort „tik“, aus dem sowohl das lateinische „digitus“ mit den Nachfolgern „dedo“ und „dito“ als auch die deutschen Formen „Zeh“, „zeigen“ und „Zeichen“ hervorgegangen sein könnten.

Ruhlens Methode ist unter traditionellen Linguisten umstritten, erhält aber massive Schützenhilfe aus der Populationsgenetik: Insbesondere Luigi Luca Cavalli-Sforza von der Universität Stanford stellte bemerkenswerte Parallelen zwischen Ruhlens sprachhistorischen Thesen und seinen eigenen Forschungen zur geografischen Ausbreitung des modernen Menschen fest. Zwischen Sprache und Stamm, so Cavalli-Sforza, existiere „häufig eine direkte Beziehung. Deshalb geben Sprachen Anhaltspunkte für Stammeszugehörigkeiten, aus denen sich wiederum eine grobe Klassifikation von Populationen ableiten lässt.“

Beispiele für die Wechselwirkung von Populationsgenetik und Sprachforschung sind das Baskische und das Magyarische. Den Ungarn wurde im 9. Jahrhundert von finno-ugrischen Reitervölkern die magyarische Sprache aufgezwungen, die keine Verwandtschaft mit den slawischen Sprachen der Region hat; ihrem Genmuster nach sind die Ungarn aber europäisch. Anders sieht es bei den Basken aus, die sich sowohl ihrer Sprache als auch ihrem Genpool nach von ihren Nachbarn unterscheiden – für Cavalli-Sforza ein Beleg dafür, dass das Baskische die letzte überlebende Sprache ist, die bereits vor der Ankunft der Indogermanen in der Region gesprochen wurde.

Umgekehrt können die Erkenntnisse der Populationsgenetik auch linguistische Thesen wie die von Ruhlens Protosprache untermauern. Folgt man Evolutionstheoretikern wie Cavalli-Sforza, dann geht die heutige Erdbevölkerung auf eine Urpopulation des homo sapiens zurück, die sich vor rund 100 000 Jahren von Afrika oder dem Nahen Osten aus über die Erde ausbreitete. Stellt man unter dieser Maßgabe die Frage, wann der Mensch zu sprechen begann, ergeben sich drei Möglichkeiten: entweder nach der geografischen Ausbreitung der Art; oder zeitgleich mit ihr; oder bereits vor der Herausbildung des modernen homo sapiens.

Die erste Variante empfinden evolutionär orientierte Sprachwissenschaftler wie der französische Linguist Bernard Victorri als unwahrscheinlich: Da die Art Mensch genetisch weitgehend homogen ist, dürfte sich ein massiver genetischer Sprung wie die Herausbildung der Sprachfähigkeit kaum unabhängig voneinander in verschiedenen Gruppen der Art ereignet haben. Übrig bleiben zwei Varianten, die beide für eine einzige Ursprache zu sprechen scheinen: Ob diese Sprache vor etwa 100 000 Jahren in der Urpopulation des homo sapiens entstand oder schon früher, ist dabei letztlich irrelevant – denn im letzteren Fall wären die Sprachen des archaischen homo sapiens mit ihm selbst ausgestorben.

Geht man wie Cavalli-Sforza davon aus, dass zwischen der Entstehung und Ausbreitung unserer Art und dem Aufkommen von Sprache eine enge Verbindung bestand, dann lässt sich mit Bernard Victorri fragen, „ob nicht Sprache der kleine Unterschied war, der den erstaunlichen evolutionären Erfolg des homo sapiens ausgemacht hat“. Diese These hat inzwischen viele Anhänger in der Evolutionsforschung gefunden und scheint auch durch genetische Befunde bestätigt zu werden (siehe Kasten).

Der entscheidende Evolutionsvorteil des Menschen wäre dann seine Fähigkeit gewesen, mittels Sprache Wissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben, komplexe Arbeitsabläufe zu koordinieren und sich in einem Sozialwesen zu organisieren – Fähigkeiten, ohne die beispielsweise ein Projekt wie der Turmbau zu Babel unmöglich gewesen wäre. Schon Gott wusste: Dem sprechenden Menschen würde „nichts mehr verwehrt werden können“.

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