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Gesundheit: „Auf die Vielfalt einstellen“

Max-Planck-Gesellschaftsforscher Wolfgang Streeck über Parallelgesellschaften

Herr Streeck, gibt es in Deutschland Parallelgesellschaften?

Der Ausdruck ist mir zu polemisch. Es war und ist normal, dass Gesellschaften aus Teilgesellschaften zusammengesetzt sind, die ihre eigene Kultur verteidigen. Erst mit der Herausbildung des Nationalstaats ist die Vorstellung entstanden, dass Gesellschaften eine einheitliche Kultur haben sollten. In Deutschland wurde und wird auf Homogenität noch mehr und noch länger Wert gelegt als anderswo. Diese Illusion zerbricht nun.

Ist der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht?

Der soziale Zusammenhalt jeder Gesellschaft ist immer bedroht beziehungsweise muss immer neu politisch erkämpft werden, wenn man ihn denn will: siehe den gegenwärtigen Wandel oder Zusammenbruch des deutschen Wohlfahrtsstaats. Hier wie bei der zunehmenden Bedeutung der Einwanderer stellt sich im Übrigen die Frage, was wir unter sozialem Zusammenhalt überhaupt verstehen wollen: gemeinsame Normen Werte, und wenn ja, welche? Ergebnisgleichheit oder Chancengleichheit? Wie viel kulturelle, ethnische, wirtschaftliche Vielfalt können, wollen, müssen wir akzeptieren? Wie gehen wir produktiv mit ihr um, rechtlich, sozialpolitisch, im Alltag?

Liegt im Entstehen von „Chinatowns“ nicht auch eine Chance zum sozialen Aufstieg? Es gibt Migrationsforscher, die die so genannte Binnenintegration als Chance sehen: Ethnische Gruppen bauen eigene erfolgreiche Infrastrukturen auf und machen von dort aus ihren Weg in der Mehrheitsgesellschaft.

Genau so ist es. Aufnehmende Gesellschaften können nicht auf Individualisierung und individuelle Assimilierung ihrer neuen Bürger rechnen. Die heutigen Einwanderer bleiben in eigene Gemeinschaften integriert, die freilich ihrerseits von der umgebenden Gesellschaft mitgeprägt werden, freiwillig oder nicht. Wir müssen viel besser verstehen, wie dieses Zusammenspiel von Aufnahmegesellschaft und Einwanderergemeinschaften unter heutigen Bedingungen funktioniert – welche Chancen in ihm für beide liegen und welche Gefahren.

Die Gastarbeiter, die in den 60er Jahren nach Deutschland kamen, gehören zu den Verlierern des industriellen Umbaus, der zum Verlust niedrig qualifizierter Arbeitsplätze geführt hat. Viele Migrantenfamilien scheinen es aufgegeben zu haben, in unserer Gesellschaft nach gleichberechtigter Teilhabe zu streben.

Vielleicht liegt das Problem eher bei der zweiten Generation, die hier aufgewachsen ist, aber oft überhaupt keine Chance hat, einen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden. Wir müssen uns fragen, ob wir zu wenig oder zu viel Anpassung verlangt haben. Unser Schulsystem muss endlich so aufgebaut werden, dass es den Anforderungen einer kulturell und muttersprachlich heterogenen Jugend gerecht wird. Wenn es um die wirtschaftliche und soziale Integration der zweiten Generation geht, versagt das duale System der beruflichen Bildung katastrophal. Wir müssen endlich anfangen, unsere Institutionen auf die neue Vielfalt unserer Gesellschaft einzustellen und uns die Träume von der einheitlichen Mehrheitsgesellschaft des Nationalstaats abgewöhnen, die außer den Deutschen kaum noch jemand träumt. Sonst wird die Rede vom „sozialen Zusammenhalt“ sehr bald jeden Sinn verloren haben.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Wolfgang Streeck (59) ist seit 1995 Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Zuvor lehrte der Soziologe an Universitäten in Köln und Wisconsin-Madison.

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