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Gesundheit: Avdos langes Liebeslied

Früher unterhielten Erzähler ein großes Publikum. Manche dichteten stundenlang aus dem Stegreif

Von Anja Kühne

Die Frauen taten es beim Weben, die Fischer beim Netzeflicken, die Pilger auf dem langen Weg zum Wallfahrtsort: Sie erzählten einander Geschichten – damit die Zeit schneller verging. Heute vergeht die Zeit in der westlichen Welt so schnell, dass es kaum noch Langeweile gibt, die mit Geschichten ausgefüllt werden will. Und wenn doch, schlagen die meisten Leute lieber ein Buch auf oder gehen ins Kino. Die mündliche Erzählung fristet ihr Dasein in Nischen, etwa im Witz oder in persönlichen Anekdoten: „Soll ich euch mal erzählen, wie ich . . . ?“

Das war Jahrtausende lang anders. Ob in Indien, Island oder Griechenland, ob unter Bauern, Fürsten oder Mönchen: Man erzählte von sprechenden Tieren, tapferen Helden und listigen Frauen, von Dämonen oder von der Liebe. Um herauszufinden, wie mündliches Dichten funktionierte, reisten die Pioniere der oral poetry-Forschung der Wissenschaft von der mündlichen Dichtung, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit Tonbandgeräten nach Jugoslawien, wo in manchen Gegenden noch lebendige Erzähltraditionen existierten. 1935 ließ der amerikanische Graezist Milman Parry dem schriftunkundigen südslavischen Sänger Avdo Mededovic das ihm unbekannte Lied „Die Hochzeit des Meho Samilagic“ vorlesen. Es hatte eine Länge von 2160 Versen. Avdo trug das Lied danach aus dem Stegreif selbst vor und erreichte eine Länge von 12 323 Versen - indem er Details schilderte und die Handlung durch Nebenepisoden ausschmückte.

Die Forscher fanden heraus, dass diejenigen jugoslawischen Sänger besonders zu langen Liedern neigten, die dem Islam angehörten, während die christlichen Sänger sich kürzer fassten. Vielleicht lag das am Fastenmonat. Die Männer saßen im Ramadan die ganze Nacht im Kaffeehaus. Manches Heldenlied war so lang, dass sein Ende erst nach Stunden erreicht war. Die meisten Guslaren (benannt nach dem einsaitigen Streichinstrument Gusle, mit dem sie sich begleiteten) waren Bauern und Handwerker. Ihre Lieder erzählten von Brautwerbungen, Abenteuern oder auch von historischen Ereignissen.

Wenn Erzählungen gesungen wurden, sei es bei den Guslaren oder an mittelalterlichen Höfen, änderten die Sänger ihren Vortrag, indem sie mal lauter, mal leiser sangen, Ausrufe einstreuten oder die Tonlage änderten. Der Gesang hob das Erzählte aus der alltäglichen Rede heraus und machte es über weitere Entfernungen hörbar. Außerdem fiel es den Vortragenden beim Singen wohl leichter als beim Sprechen, metrisch richtige Verse hervorzubringen. Wie aber war das einem Analphabeten überhaupt möglich? Die Dichter bedienten sich aus einem Repertoire von metrisch vorgeformten Wendungen, die sie variierten. Etwa indem sie ein Wort durch ein anderes mit gleicher Silbenlänge ersetzen: „im Turm/Schloss/Haus“. Genau so machten sie es, um die Handlung im Kopf zu behalten. Sie verwendeten vorgeprägte Schemata mit typischen Figuren und Szenen. Trotzdem verstrickten sie sich manchmal in inhaltliche Widersprüche. Bewegten die Forscher die jugoslawischen Dichter dazu, über einen in der Tradition ganz fremdartigen Stoff zu singen, blieb es bei holprigen Versuchen.

Die Gestalt mündlich verbreiteter Geschichten dürfte sich ständig verändert haben. Im Orient weiß man von männlichen Berufserzählern, die die Wünsche und Anregungen ihres – vermutlich durchgängig männlichen – Publikums aufnahmen: „Das Milieu stutzt sich das Werk zurecht“, hat einmal ein Wissenschaftler geschrieben. Das gilt nicht nur für den Orient. Überall konnten die Hörer den Erzähler oder die Erzählerin dazu bringen, die Geschichte so zu formen, wie sie sie gewohnt waren oder im Gegenteil wie es zur aktuellen Lage der Dorfgemeinschaft passte. Sie riefen dazwischen oder stellten Fragen. Der Erzähler reagierte, indem er Andeutungen über den weiteren Verlauf machte oder das Publikum direkt ansprach. Wenn ein Erzähler einen Zug einer Erzählung vergessen hatte, ersetzte er ihn durch einen anderen.

Die meisten der Erzählungen, die in der ganzen Welt mündlich erzählt wurden, sind heute verloren. An einige populäre Geschichten erinnern sich in abgelegenen Winkeln der Erde noch sehr alte Leute, bei den Eskimos oder Indianern etwa. Manche Märchen, Sagen, Fabeln oder erzählende Lieder überlebten auch bis in die Gegenwart, weil sie aufgeschrieben wurden - oftmals erst, nachdem sie schon viele Jahrhunderte mündlich weitergereicht worden waren.

Von allen Geschichten kursierten wohl Varianten. In manchen später niedergeschriebenen Erzählungen lassen sich Spuren verschiedener Traditionen aus unterschiedlichen Zeiten erkennen, so wie bei der berühmten arabischen Erzählsammlung „Tausendundeine Nacht“. Den Ursprung der Rahmenerzählung und der Tierfabeln hat man in Indien vermutet, aus Persien könnte die Geisterwelt und der Scheherazad kommen, die Schlachtgeschichten könnten viel später, im Mittelalter während der Kreuzzüge der Europäer, hinzugekommen sein.

Wie nah schriftliche Fassungen einer Geschichte an mündlichen Erzählungen sind, lässt sich kaum feststellen. Die Brüder Grimm jedenfalls bearbeiteten ihre „Kinder- und Hausmärchen“ – obwohl sie das nicht zugaben. Wilhelm Grimm strich Stellen, die ihm erotisch anzüglich vorkamen. Passagen, von denen er sich eine erzieherische Wirkung versprach, betonte er. Außerdem stammen zahlreiche der Grimmschen Märchen nicht direkt aus dem „Volk“, wie die Brüder behauptet hatten, sondern von Frauen, die dem adlig-bürgerlichen Mittelstand angehörten. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Märchen der Brüder Grimm in dieser Schicht später so erfolgreich waren.

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