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Gesundheit: Berge versetzt

Einst zensiert, jetzt rekonstruiert: Humboldts russisch-sibirische Reise

„Geheimnisvoll am lichten Tage, lässt sich Natur ihres Schleiers nicht berauben, und was sie dir nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und Schrauben.“ Das Zitat aus Goethes Faust benennt präzise den Ehrgeiz Alexander von Humboldts, mit dem er 1829 im Alter von 60 Jahren zu seiner Russland-Reise aufbricht. Genau um das im Faust Karikierte geht es ihm: Die Natur ihres Schleiers berauben, das Geheimnis des Lebens durch Forschung in der unmittelbaren Anschauung lüften.

Bei allem Rummel um Humboldt ist kaum von seiner Reise in den Osten die Rede. Merkwürdig: Ging diese doch zumindest quantitativ weit über seine Südamerika-Fahrt hinaus. Hatte er hier in fünf Jahren 8000 Kilometer zurückgelegt, sollten es dort in nur neun Monaten 18 000 Kilometer werden. Und es wären noch wesentlich mehr geworden, wenn Humboldt, wie ursprünglich geplant, bis zum Himalaya hätte reisen dürfen. Allgemeine und Vergleichende Montanwissenschaft wollte Humboldt betreiben: Lassen sich Kordilleren und Himalaya vergleichen? Doch daraus wird nichts. Die russischen Behörden stellen sich ihm entgegen.

Russland also. Sibirien. Altai und Ural. Humboldt folgt der Einladung des Zaren Nikolaus I. Es begleiten ihn der Mineraloge Gustav Rose und Christian Gottfried Ehrenberg, Paläontologe und Botaniker. Man unterhält sich mit den Gastgebern auf Französisch, Deutsch oder nimmt den Dolmetscher in Anspruch. Mit Landkarten, deren Präzision dem Wissen des Mittelalters über die Region entspricht, beginnt die Reise in den Osten. Humboldt kann Flussläufe korrigieren und Berge versetzen, wie der Moskauer Humboldt-Forscher Alexej V. Postnikov jetzt bei einer Tagung zu Humboldts russisch-sibirischer Reise an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erklärte.

Den „Gendarmen Europas“ nennt man Nikolaus I., und er nötigt dem Naturforscher die Bedingung ab, sich in allen öffentlichen Äußerungen und schriftlichen Berichten „nur auf die tote Natur zu beschränken und alles zu vermeiden, was sich auf Menschen-Einrichtungen, Verhältnisse der unteren Volksklasse bezieht“. Eine Zensurmaßnahme: Man fürchtet den liberalen Geist des Kosmopoliten. Hingegen erhofft sich der Zar Erkenntnisse über Metallvorkommen. Und tatsächlich: Auf einen Wink Humboldts beginnen Grabungen, die zur Entdeckung einer Diamantmine führen. Ein Fundstück ist bis heute im Berliner Naturkundemuseum zu bestaunen. Nach Humboldt beschleunigt sich auch Russlands Aufstieg zum führenden Goldproduzenten.

Im Unterschied zu Goethe glaubt Humboldt an die Bedeutung seiner „Hebel und Schrauben“, seiner Mikroskope, Teleskope, Hygrometer und nicht zuletzt an seine „Inklinationsbussole“. Was in aller Welt ist das? Es ist ein Messinstrument zur Bestimmung der Kraft des der Erdkugel eigenen Magnetfelds. Eingehende Untersuchungen in dieser Richtung stellt Humboldt, Absolvent der Montanhochschule zu Freiberg, in Russland an, wie er es bereits in Südamerika tat.

Ergebnisse seiner Reise veröffentlichte Humboldt in den Schriften Fragments de géologie et de climatologie asiatiques (1831) und dem folgenden Asie centrale (1843). Auch in seinem groß angelegten Alterswerk, Kosmos, das in einer Folge von fünf Bänden ab 1845 erscheint und über dessen Vollendung er 1859 stirbt, finden sich ungezählte Hinweise auf die Ergebnisse seiner russischen Reise.

Nach außen hin hat sich Humboldt an den Befehl des Zaren gehalten, über die politischen und sozialen Verhältnisse in Russland hinwegzusehen. In vertraulichen Briefen jedoch verurteilte er etwa die Leibeigenschaft scharf. In russischen Bergwerken sah er Leibeigene und Zwangsarbeiter schuften. Zu Lebzeiten Humboldts galt, dass „die leibeigenen gutsherrlichen Leute und Bauern einen Bestandteil des gutsherrlichen Vermögens bilden, bei deren Veräußerung, ebenso wie bei der Veräußerung von unbeweglicher Habe, Kaufbriefe ausgestellt und Gebühren zu Gunsten des Fiskus erhoben werden“. Die Aufhebung der Leibeigenschaft hat Alexander von Humboldt gewünscht. Erleben sollte er sie nicht. Humboldt, der überzeugt war, dass alles in der Natur miteinander zusammenhängt, war auch in der Gesellschaftspolitik ein Modernisierer.

Hans von Seggern

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