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Gesundheit: Blutkrebs: Die Hoffnung hinter STI571

Beim Entdecken neuer Medikamente hilft meistens der Zufall. Das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis zeigt, dass es auch anders geht.

Beim Entdecken neuer Medikamente hilft meistens der Zufall. Das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis zeigt, dass es auch anders geht. Die Firma ging bei der Wirkstoffsuche streng systematisch vor. Sie filterte aus Tausenden von Stoffen eine Substanz heraus, die gezielt ein bestimmtes "Krebs-Molekül" hemmt. Dann entwickelte sie diesen potenziellen Krebs-Blocker weiter. Das daraus entstandene "Designer-Medikament" mit der Kürzelbezeichnung "STI571" kann die chronisch myeloische Leukämie, eine Form von Blutkrebs, zurückdrängen, und das mit erheblich weniger Nebenwirkungen als herkömmliche Mittel.

"STI" steht für Signal-Transduktions-Inhibitor, auf deutsch etwa "Hemmung der Signal-Weiterleitung". Das Mittel blockiert ein Eiweißmolekül, dass die Vermehrung der Leukämiezellen ankurbelt. Dieses Eiweiß mit Namen ABL wird in gesunden Zellen nur kurz "angeschaltet". In den Krebszellen ist es stets aktiv. Das Ergebnis: die betroffenen weißen Blutkörperchen vermehren sich unentwegt und überfluten den Körper.

Die Ursache der chronisch myeloischen Leukämie ist ein folgenschwerer molekularer Unfall, nämlich vertauschte Chromosomenenden in den Krebszellen. Die langen Arme der Chromosomen neun und 22 tauschen die Plätze. Der Bruch der Erbträger und ihre Neukombination führt zu zwei neuen "Mischgenen". Denn das Gen für das Eiweiß ABL auf Chromosom neun und das Gen für das Protein BCR (Chromosom 22) werden jeweils auseinandergerissen und neu zusammengefügt: zu dem Gen BCR-ABL auf Chromosom 22 und zu dem Erbmerkmal für ABL-BCR auf Chromosom neun. Aufgrund dieses Gen-Unfalls ist das Erbmerkmal für BCR-ABL ständig "angeschaltet".

Das Eiweiß ABL gehört ebenso wie BCR-ABL zu der großen Familie der Tyrosinkinasen. Das sind Signalmoleküle. Sie leiten Wachtumsimpulse in der Zelle weiter, indem sie eine Phosphatgruppe aus dem Energiespender ATP abspalten und übertragen. Just diesen Prozess unterbricht STI571, indem es sich in der molekularen Tasche des ABL-Proteins breitmacht, die eigentlich für ATP reserviert ist. Das Signal "Wachse und vermehre dich" ist gestoppt.

Die chronisch myeloische Leukämie gilt als unheilbar, mit Ausnahme der - meist nicht gegebenen - Möglichkeit zur Stammzelltransplantation. Im Mittel sterben die Patienten nach sechs Jahren. Deshalb war STI571 die Sensation beim Treffen der amerikanischen Blutkrebsspezialisten im Dezember 1999, als erste Ergebnisse der Erprobung beim Menschen durchsickerten.

Nun veröffentlicht das Fachblatt "New England Journal of Medicine" gleich drei Studien zu STI571. Sie bestätigen die erste Euphorie zwar nicht, geben aber zur Hoffnung Anlass. Die Zeitschrift spricht sogar von teilweise "dramatischen" Ergebnissen. Bei praktisch jedem Patienten konnte das Mittel den Krebs zumindest zeitweise zurückdrängen. Es erwies sich als sehr gut verträglich - für ein Krebsmedikament höchst ungewöhnlich. Allerdings kam es in einem späten Stadium der Krankheit, der "Blastenkrise", regelmäßig zum Rückfall trotz Therapie. Ob eine frühe Behandlung eine Dauerheilung bewirkt, steht noch dahin.

"STI571 ist kein Wundermittel", sagt Bernd Dörken, Spezialist für Blutkrebs an der Berliner Charité, "aber die Substanz hat eine enorme Potenz und ein sehr günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis, ganz anders als die bisherigen Mittel." Für Dörken ist STI571 das Musterbeispiel für einen Paradigmenwechsel in der Medizin: weg vom Zufallsprinzip, hin zur molekular maßgeschneiderten Therapie. STI571 soll im Herbst in den USA zugelassen werden.

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