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Gesundheit: Dagegen ist ein Kraut gewachsen

Wie Heilpflanzen bei Schlafproblemen, Rückenschmerzen oder Verdauungsstörungen helfen können

80 Prozent aller Bundesbürger bevorzugen im Zweifelsfall pflanzliche gegenüber synthetischen Arzneimitteln – so lautet das Ergebnis einer Allensbach-Umfrage. Im Jahr 2002 wurden in Deutschland allein apothekenpflichtige pflanzliche Medikamente für zwei Milliarden Euro verkauft.

Sie sind keineswegs samt und sonders „alternativ“ – jedenfalls nicht, wenn man darunter einen Gegensatz zur Schulmedizin versteht. Zu einigen Phytopharmaka (aus dem Griechischischen „phyton“: die Pflanze, und „pharmakon“: das Heilmittel) gibt es inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen, die strengen Qualitätsansprüchen genügen und die die Wirksamkeit der pflanzlichen Mittel belegen.

Naturheilmittel und naturwissenschaftliche Prüfung sind längst kein Gegensatz mehr, seit Extrakte von Pflanzen mit altehrwürdigen botanischen Namen in High-Tech- Betrieben mit Hilfe von standardisierten Verfahren gewonnen und anschließend in Studien auf ihre Wirksamkeit im Vergleich zu Scheinpräparaten oder anerkannten Medikamenten untersucht werden. Einige Ergebnisse:

Ein Extrakt aus Blättern und Blüten des Weißdorn (Crataegus) erwies sich bei der Behandlung früher Stadien der Herzinsuffizienz und leichter Formen von Herzrhythmusstörungen als wirksam.

Die Früchte der Mariendistel (Carduus marianus), deren Wirkstoff Silibinin das Gift des Knollenblätterpilzes entschärft, sind wirksam bei der Behandlung von Leberentzündungen.

Hochdosierte Extrakte aus Weidenrinde (Salicis cortex), deren chemische Verwandtschaft zur Acetylsalicylsäure (ASS) sich schon im Namen zeigt, lindern chronische Rückenschmerzen und Gelenkbeschwerden.

Extrakte aus den Blättern des von Goethe geliebten Ginkgobaumes verbessern bei leichten Hirnleistungsstörungen einer US-Studie zufolge die Gedächtnisleistung.

Baldrian verbessert messbar die Schlafqualität. Eine Studie an gesunden Versuchspersonen hat übrigens gezeigt, dass Baldrian auch nach längerer Anwendung die Reaktionsgeschwindigkeit nicht verringert.

Bei funktionellen Beschwerden im Verdauungstrakt werden auf eine Kombination von hochdosiertem Pfefferminz- und Kümmelöl und ein weiteres Kombipräparat aus neun verschiedenen Extrakten mit dem Hauptbestandteil „Iberis amara“ Hoffnungen gesetzt.

Gut erforscht ist auch das Johanniskraut (Hypericum perforatum). Zwar gab es im letzten Jahr zwei negative Studien dazu. Doch eine Gesamtanalyse von Klaus Linde vom Zentrum für naturheilkundliche Forschung der Technischen Universität München zeigt: Bei leichten bis mittelschweren depressiven Verstimmungen und Depressionen wirkt das Hypericum-Extrakt gleich gut wie synthetische Präparate. In den USA wurde es in die Richtlinien zur Depressions-Behandlung aufgenommen.

Die Phytopharmaka sind nicht zuletzt deshalb beliebt, weil sie als sanft und verträglich gelten. So stellt etwa Linde nach seiner Analyse von 17 Studien, in die Daten von über 35000 Patienten einflossen, für Johanniskraut fest: „Die berichteten Nebenwirkungen waren in den meisten Fällen leichter und unspezifischer Natur.“

Volker Fintelmann, Hamburger Internist und Autor eines Lehrbuchs der Phytotherapie, erklärt das mit der gemeinsamen Entwicklung von Mensch und Pflanze, die Anpassungen im menschlichen Stoffwechsel bewirkte. Allerdings hielt Mutter Natur auch immer hochgiftige Pflanzen wie den Phytopharma-Klassiker Digitalis (Fingerhut) bereit. Im Alltag spielen heute eher allergische Reaktionen, vor allem gegen auf die Haut aufgetragene pflanzliche Mittel, eine nennenswerte Rolle.

Johanniskraut seinerseits bekam negative Schlagzeilen, als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass es die Wirkung anderer, gleichzeitig eingenommener Medikamente verändert. Eine Arbeitsgruppe um den Klinischen Pharmakologen Ivar Roots von der Charité Campus Mitte hatte festgestellt, dass Hypericumextrakt die Konzentration des aus den Blättern des Digitalis gewonnen Herzmittels Digoxin im Blut um ein Viertel verringert. Auch die Wirkstoffkonzentration einiger Antidepressiva sank deutlich, wenn gleichzeitig Johanniskraut zum Einsatz kam.

Diese Wechselwirkungen könnten ein Grund sein, Johanniskrautpräparate verschreibungspflichtig zu machen. „Es kann dem einzelnen Patienten nicht zugemutet werden, die Dosierung seiner Medikamente mit der Einnahme von Johanniskraut selbst in Einklang zu bringen“, kommentierte Roots seinerzeit die Studien.

Man kann es auch als gute Nachricht betrachten, dass Phytopharmaka Wechselwirkungen und erwünschte Effekte zeigen – als weiteren Beleg ihrer Wirksamkeit. Die jedoch ist davon abhängig, wie viel Wirkstoff in einer Pille oder Kapsel tatsächlich drin ist. Stichproben an freiverkäuflichen Johanniskraut– Präparaten im Jahr 2003 ergaben, dass die Zusammensetzung bei ein und demselben Hersteller stark schwankt – und dass die in Drogerien gehandelten Mittel viel zu niedrige Dosen enthielten, um die in Studien ermittelten Erfolge zu erzielen.

Bei Johanniskraut sind es ziemlich sicher die Inhaltsstoffe Hyperforin und Hypericin, die zur Wirkung beitragen. Kompliziert wird die Sache aber durch das phytotherapeutische Credo, dass nicht allein isolierte Inhaltsstoffe der Pflanze, sondern, in Fintelmanns Worten, die „Ganzheit Pflanze als ein jeweils kompositorisches Geheimnis“ wirkt. High Tech und Ganzheitlichkeit – in den Augen von Skeptikern ein kaum zu meisternder Spagat. Wenn die Hersteller gleichbleibende Zusammensetzung der Präparate garantieren, die in Studien für wirksam befunden wurden, verdienen diese pflanzlichen Mittel aber auf jeden Fall das Attribut „rational“: Ihre Wirkung ist kein Wunder, sondern wissenschaftlich untermauert und unter gleichen Versuchsbedingungen wiederholbar.

Adelheid Müller-Lissner

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