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Gesundheit: Darwin im Kopf

Auch unser Gehirn wird vom Kampf ums Dasein bestimmt

Es beginnt im Mutterleib. Erstmals nimmt die Darwin-Maschine ihre Arbeit auf.

Einen schönen, wenn auch indirekten Hinweis dafür brachte der Psychologe Anthony DeCasper von der Universität von North Carolina in Greensboro. Der Forscher drückte einer Gruppe werdender Mütter das Kinderbuch „Der Kater mit Hut“ von Dr. Seuss in die Hand und bat sie, einen Abschnitt daraus immer wieder laut vorzulesen. Eine zweite Gruppe von schwangeren Frauen bekam ein anderes Buch.

Zwei Tage nach der Geburt offenbarte sich: Nur wenn man den Babys aus der Geschichte vorlas, der sie schon als Fötus ausgesetzt gewesen waren, beruhigte sich ihr Herz – es fing an, langsamer zu schlagen, wenn die Babys die vertraute Stelle hörten! Klar, dass die Säuglinge die Geschichten nicht wirklich verstanden hatten. Irgendetwas aber müssen sie wiedererkannt haben, vermutlich den Rhythmus, den Ton des Textes. Aber wie?

Mit Hilfe der Darwin-Maschine in ihrem Kopf: des Gehirns.

Diese Darwin-Maschine funktioniert so: Während der Embryonalentwicklung bilden sich Milliarden von Nervenzellen. Eine irrsinnige Produktion. Schon um die 20. Woche herum zählt ein Fötus-Hirn mehr als 200 Milliarden Neuronen.

Was daran das Verblüffendste ist: Ein erwachsenes Hirn besteht nur aus rund 100 Milliarden Neuronen, also etwa der Hälfte. Irgendwann im Laufe der Kindheit muss ein radikaler Abbau von Hirnzellen stattfinden. Und nicht nur zahlreiche Zellen gehen zugrunde, sondern auch viele der Verbindungen zwischen ihnen, Synapsen. Warum? Wieso steckt die Natur so viel Hirn in uns hinein, nur um es uns später wieder zu nehmen?

Was sich zunächst nach reiner Verschwendung anhören mag, könnte eine entscheidende Voraussetzung unserer Intelligenz und Flexibilität sein. Die anfängliche Überproduktion von Nervenzellen in unserem Kopf sorgt zum Beispiel dafür, dass wir als Kinder Deutsch mit der gleichen Leichtigkeit lernen können wie Japanisch. Dafür, dass wir im Eis Grönlands ebenso klarkommen wie im tropischen Urwald Brasiliens. Unsere Anpassungsfähigkeit ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass auch unser Oberstübchen Darwins Prinzipien vom Kampf ums Dasein und der Auslese der Bestangepassten nutzt.

Aufgrund der neuronalen Überproduktion sind Kinderhirne noch offen für alles. Das üppige Hirnmaterial wartet nur darauf, von der Umwelt „aufgegriffen“ zu werden. Im Laufe unserer Entwicklung spezialisieren sich die Neuronen und ihre Verbindungen dann immer mehr: Einige Zellverbände reagieren auf bestimmte Sprachlaute, andere entwickeln ein Gespür für Schnee. Je öfter ein Eskimo-Kind im Schnee spielt, desto mehr verfestigen sich jene Hirnstrukturen, die sich mit Schnee beschäftigen. Hört man als Baby Japanisch, werden jene Zellverbände beansprucht, die sich um diese Sprachlaute kümmern. Hört ein Ungeborenes eine bestimmte Geschichte immer wieder, bilden sich Verbindungen aus, die den Ton und Rhythmus dieser Geschichte verarbeiten. Für so gut wie alle Erfahrungen findet sich eben irgendwo in dem Milliardengeflecht der Zellen eine neuronale Entsprechung, ein geistiger Nährboden.

Jene Strukturen dagegen, die das Baby- Hirn der Welt anbietet, die jedoch nicht von der Umwelt in Anspruch genommen werden, sterben nach und nach. Alles überflüssige neuronale Material wird, wie bei der Arbeit an einer Skulptur, weggemeißelt. „Dieser neuronale Feinschliff ist essentiell für die kindliche Entwicklung“, sagt die Chicagoer Hirnforscherin Lise Eliot. Wird in unserer Kindheit nie zwischen den Lauten „L“ und „R“ unterschieden, wie in Japan, haben wir später Schwierigkeiten damit, diese Laute zu trennen. „Erwachsenen steht das neuronale Material nicht mehr im Überfluss zur Verfügung, Lernen fällt uns schwerer“, sagt der Hirnforscher Christian Keysers von der Universität Groningen.

Dabei sind die frühkindliche Entwicklung und das Lernen nur ein Beispiel dafür, wie unser Gehirn von Darwins Regeln bestimmt wird. Auch die Hirnanatomie und das Denken lassen sich nur verstehen vor dem Hintergrund der Evolution. So gleicht unsere graue Masse nicht etwa einem Generalprozessor, mit dem sich alle Probleme gleichermaßen lösen lassen – wie bei einem von einem Ingenieur konstruierten Computer. Nein, vielmehr besteht unser Gehirn aus einzelnen „Facharbeitern“, die sich jeweils auf eine Problem-Nische spezialisiert haben, im Laufe einer langen Entwicklungsgeschichte. Unser Ingenieur war die Natur.

Und die geht Schritt für Schritt vor. Ein Areal in der rechten Hirnhälfte ist zum Beispiel besonders gut darin, Gesichter zu erkennen. Ist diese Hirnregion geschädigt, kann man zwar noch ganz normal sehen, nur Gesichter erkennt man nicht mehr, selbst dann nicht, wenn es sich um den eigenen Ehepartner handelt.

Andere Hirnareale haben sich auf Gerüche oder Sprachverarbeitung spezialisiert. Es gibt keinen Generalprozessor im Kopf, stattdessen bestehen wir aus einer Kollektion vieler Spezialprozessoren. Nach einem Bild des US-Kognitionspsychologen Steven Pinker: Das Hirn ähnelt einem Schweizer Taschenmesser, ausgestattet mit spezifischen geistigen Werkzeugen.

Dabei haben sich im Laufe der Evolution vor allem jene geistigen Werkzeuge in unserem Kopf angesammelt, die wir zum Überleben in der afrikanischen Savanne gut gebrauchen konnten. Die Konsequenz: Alles, was in der Steinzeit für den Kampf ums Dasein wichtig war, fällt unserem Hirn leicht, wie zum Beispiel Gesichtererkennung. Mit abstrakten mathematischen Formeln dagegen, etwa der Quantenphysik, haben wir so unsere Probleme.

Wenn es keinen Zentralprozessor gibt, wer koordiniert dann die zahlreichen Facharbeiter in unserem Kopf? Auch dies lässt sich wohl nur mit Darwin verstehen: Die Natur braucht keinen ultimativen Koordinator, die Arten finden eine Art „Gleichgewicht“ im Kampf ums Dasein. Ein ähnlicher Kampf scheint sich auch in unserem Kopf abzuspielen. Ununterbrochen versuchen die diversen Hirnzentren die Aufmerksamkeit an sich zu reißen. Der Großteil dieses Kampfes um Aufmerksamkeit geschieht unbewusst. Nur hin und wieder merken wir, wie verschiedene Gedanken, Gefühle oder Handlungstendenzen in uns im Clinch liegen. Wenn etwa ein Teil in uns – sprich: ein Neuronenverband – dem Chef die Meinung sagen will, während andere Neuronen die Konsequenzen fürchten und versuchen, die wütende Neuronenkoalition in uns zum Schweigen zu bringen. Ein Hirnteil hat Hunger, ein anderer denkt an die Linie, usw. Derjenige Zellverband, der am Ende das Rennen gewinnt, bestimmt letztlich, was wir tun.

Darwins Prinzip vom Kampf ums Dasein und der Auslese lässt sich also auf mehreren Ebenen im Gehirn beobachten – von der Entwicklung des kindlichen Gehirns bis hin zum Denken und Verhalten.

Ja, sogar unsere Kultur könnte sich teilweise nach darwinistischen Gesetzen entwickeln. Denn so wie sich Gene vervielfältigen, so scheinen sich auch „Kultureinheiten“ zu verbreiten. Der britische Biologe Richard Dawkins bezeichnet diese Gene des Geistes als „Meme“. Der Song „Happy Birthday to You“ ist ein Beispiel für eine Gruppe von Memen, die sich besonders gut verbreitet haben – fast jeder auf der Welt kennt das Lied, auch wir in Deutschland singen es, wenn jemand Geburtstag hat. Warum? Jeans stellen ein anderes erfolgreiches „Mem“ dar, ebenso wie die Idee von Gott und einem Leben nach dem Tod. Meme vermehren sich, springen von Gehirn zu Gehirn, werden zum Ohrwurm oder zur Mode.

Aus Sicht der Gene sind wir Menschen lediglich „Vehikel“: Genhüllen, die dazu da sind, die Gene in uns von Generation zu Generation weiterzugeben. Während wir sterben, sind die Gene im Prinzip unsterblich. Und gilt das Gleiche nicht auch für erfolgreiche Meme? Manche Melodien, religiöse Überzeugungen, Ideen und Geschichten scheinen geradezu unsterblich zu sein. „Wir Menschen sind nur die physikalischen Wirte, die die Meme brauchen, um sich zu verbreiten“, stellt die britische Psychologin Susan Blackmore nüchtern fest. Unser Gehirn wäre demnach nicht nur eine Darwin-, sondern auch eine Mem-Maschine.

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