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Gesundheit: Das erste Lampenfieber

Das Lampenfieber hat viele Gesichter: Während der kleine Andreas auf dem Stuhl neben seiner Mutter aufgeregt hin und her zappelt, klammert sich die zehnjährige Gesine an die Hand ihres Vaters. Ihre Haltung verrät die innere Anspannung.

Das Lampenfieber hat viele Gesichter: Während der kleine Andreas auf dem Stuhl neben seiner Mutter aufgeregt hin und her zappelt, klammert sich die zehnjährige Gesine an die Hand ihres Vaters. Ihre Haltung verrät die innere Anspannung. Doch als sie sich an das Klavier setzt, scheint die Nervosität verflogen. Geschmeidig fliegen ihre Finger über die Tasten. Draußen auf dem Gang mischt sich der Klavierklang mit hellem Kindergesang, hohen Flötentönen und einer zarten Violine aus den anderen Räumen.

Wie ein Bienenstock summt der ehrwürdige Bau der Hochschule der Künste (HdK) an der Bundesallee: Mehr als zweihundert Kinder huschen durch die Räume. Sie nutzen den Tag der offenen Tür des Julius-Stern-Instituts, um ihr musikalisches Talent zu erproben. "Wir müssen mehr für unseren begabten Nachwuchs tun", sagt Wolfgang Siggemann, der Chef des Instituts. "Das betrifft nicht nur die künftigen Spitzenmusiker sondern auch die jungen Leute, die Musik als Hobby, aber auf hohem Niveau betreiben wollen." Siggemann ist Dozent an der Hochschule der Künste, seine Klientel sind normalerweise Musikstudenten und künftige Musikpädagogen, also Jahrgänge, die längst über das Abitur hinaus sind. "Doch die wichtigsten Grundlagen werden im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren gelegt", weiß er aus Erfahrung. "Wenn man da ein Talent nicht erkennt oder falsch fördert, ist es unter Umständen verloren."

Die Lehrer am Institut sind Dozenten der Hochschule der Künste. Wohl deshalb geht es am Julius-Stern-Institut schon ein bißchen zu wie beim richtigen Studium. Nach der Sichtung der Talente nimmt das Immatrikulationsbüro der Hochschule die Bewerbungen entgegen und lädt zur Eignungsprüfung. Fünfzig Kinder und Jugendliche im Alter zwischen elf und neunzehn Jahren werden derzeit unterrichtet. Die Kurse beginnen im Rhythmus der Semester, also im Herbst und im Frühjahr. Auf dem Lehrplan stehen Streichinstrumente wie Violine, Cello, Kontrabaß oder Viola. Die Dozenten der HdK unterrichten auch Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete Klavier, Cembalo oder Orgel. Neu im Programm sind Gesangskurse für hohe und tiefe Stimmen sowie Nachwuchsklassen für Alte Musik und Jazz. Die monatlichen Gebühren liegen bei 60 Mark pro Kind. Damit bietet die Hochschule der Künste ein bundesweit einmaliges Programm zur Förderung ganz junger Talente.

Das ist richtungsweisend, beschloß doch die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen kürzlich in Weimar, die Nachwuchsförderung erheblich zu erweitern. "Es geht darum, die Kinder als musikalische Persönlichkeiten zu formen", meint Ulrich Mahlert, Dekan der Fakultät Musik und Vizepräsident der HdK. "Sie sollen sich an mehreren Instrumenten ausprobieren und ihren Weg zur Musik finden. Auch die weiterführende Beschäftigung mit der Musik über die Instrumente hinaus, etwa mit Musikgeschichte oder Komposition, hat ihren eigenen Wert."

Auch Christian Thielemann engagiert sich für das Institut. Er ist Generalmusikdirektor des Orchesters der Deutschen Oper. Früher war er Schüler am Julius-Stern-Institut, später Student an der HdK. Zurückblickend sagt er: "Wenn die Kinder aus ihrer Leidenschaft einen Beruf machen wollen, müssen sie schon frühzeitig auf vieles verzichten. Das muß man ihnen klar vor Augen führen." Allerdings warnt er davor, die Kleinen zu Sklaven ihrer ehrgeizigen Eltern zu machen. "Die Kinder sollen die Musik mit Spaß erleben und ihren ganz persönlichen Stil der Interpretation entwickeln. Dazu müssen ihnen die Lehrer individuelle Freiheit geben."

Ein Grund für Ulrich Mahlert, auf das enge Verhältnis zwischen Lehrer und Musikschüler hinzuweisen: "Die Kinder und ihre Eltern sollten den Mut haben, die Lehrer zu wechseln, wenn das persönliche Vertrauensverhältnis nicht funktioniert. Wenn dieses Verhältnis stimmt, liegt darin eine große Chance, das weiß jeder Musiker."

Berlin hat derzeit rund 50 000 Musikschüler. Das Julius-Stern-Institut geht auf das 1850 gegründete Sternsche Konservatorium für Musik zurück, das älteste Konservatorium Berlins. Der jüdische Violinist, Chorleiter und Gesangspädagoge Julius Stern gründete 1847 auch den Sternschen Gesangsverein, einen der bedeutendsten Berliner Chöre im 19. Jahrhundert. Die Schule, die kommerziell arbeitete und keinerlei Zuschüsse bekam, wuchs in der wilhelminischen Zeit auf über 1000 Schüler. Für die zahlreichen Ausländer gab es Kurse in englischer und russischer Sprache. Um lange und gefährliche Wege für die Kinder zu vermeiden, entstanden Zweigstellen in Charlottenburg und Wilmersdorf. Nach der Enteignung der jüdischen Inhaber wurde die Schule unter den Nazis zum "Konservatorium der Reichshauptstadt" umfunktioniert.

Nach Kriegsende übernahm Berlin die Ausbildungsstätte in die städtische Regie. Als das Konservatorium 1966 in der Hochschule aufging, wurden die Bereiche der Nachwuchsförderung im Julius-Stern-Institut zusammengefaßt. Zu den bekanntesten Absolventen gehören Christian Höppner, heute ebenfalls Dozent an der HdK und Präsident des Landesmusikrates, sowie eine ganze Generation hoffnungsvoller Jungmusiker, darunter Nicole und Viviane Hagner, Pascal von Stocki oder Severin von Eckardstein.

Informationen: Julius-Stern-Institut für musikalische Nachwuchsförderung der HdK, Bundesallee 1-12, 10719 Berlin-Wilmersdorf, Frau Krampitz, Telefon: 31 85 25 99, montags, dienstags und donnerstags: 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr. Kostenlose künstlerisch-instrumentale Beratung: Doris Wagner-Dix, Telefon/Fax: 815 81 89.

HEIKO SCHWARZBURGER

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