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Gesundheit: Das Geheimnis der Schneeflocke

Max hatte alles erreicht, wovon ein Museumsmann träumt. Aber was er in der Höhle fand, übertraf seine Erwartungen. Eine Geschichte von Ariane Karbe

Max sagte, ich solle die Geschichte niemandem erzählen. Aber das wäre so, als besäße man etwas ganz Besonderes, ohne es jemals einem Menschen zu zeigen. Ich halte es auch für meine Pflicht – den Museumsbesuchern gegenüber, meine ich – dass endlich einer die Wahrheit sagt. Zumal Max längst tot ist.

Er war Kurator hier in der Stadt am NaturkundeMuseum. Dort hatte er schon als junger Mann gearbeitet. Er war gut – ich meine richtig gut – ein brillanter Wissenschaftler wie er im Buche steht. Ein unbestechlicher Geist. Diskussionen mit ihm waren tödlich. Einmal, als er mich mit seinen Fragen in die Ecke gedrängt hatte, stand mir buchstäblich der Schweiß auf der Stirn, ich rief aus: „Max, lass gut sein. Du hältst mich in deinen Fängen wie eine verdammte Gottesanbeterin.“ Er aber lachte nur vergnügt.

Max hatte alles erreicht, wovon man als Paläontologe und Museumskurator träumt: Stipendien, Auszeichnungen, Ehrenprofessuren und eine umfassende Neueinrichtung der Dauerausstellung. Nur Forschungsreisen hatte er wegen seiner Krankheit seit Jahren nicht mehr unternehmen können. Bis sich ihm die Chance bot, eine Ausgrabung in Afrika zu leiten. Man umwarb ihn heftig, denn Max war der unangefochtene Spezialist für die Region.

Ich glaube, er fuhr damals aus der Überzeugung hin, dass er nicht mehr lange zu leben und nichts mehr zu verlieren hatte. Kurz vor seiner Abreise traf ich ihn noch einmal. Er glich einem Spürhund, der Witterung aufgenommen hatte, war nervös, erregt und völlig auf einen Punkt fixiert. „Ich habe so ein Gefühl“, murmelte er glücklich.

Zu Anfang lief bei der Ausgrabung wohl alles gut. Das Team hatte sich eingespielt. Nachdem die ersten Knochen ausgegraben worden waren, sorgte der Fund eines Terraxsaurus in der internationalen Presse für Aufsehen. Schnell war klar, dass man sich auf eine Höhle konzentrieren würde.

Max war die ganze Zeit in Afrika wie elektrisiert gewesen, erzählte er mir später, viel später sogar. Ich war bei ihm zu Besuch, Max war damals schon sehr krank, und ich ahnte nicht im Geringsten, welche Wendung sein Bericht nehmen sollte. Er hatte den Austausch mit den Kollegen genossen und die Arbeit „an der Basis“, wie er es nannte.

Eines Tages war er zum Pinkeln in den hinteren Teil der Höhle gegangen und hatte dort ein Loch in der Wand entdeckt. „Mir ist schleierhaft gewesen, wie dieses bei der Vermessung der Höhle überhaupt von uns übersehen werden konnte“, sagte er. Er hatte in das Loch hineingeleuchtet, in einen Gang und bevor er auch nur einen klaren Gedanken hatte fassen können, war er schon durch das Loch hindurchgestiegen und lief und lief immer weiter. Nach vielleicht fünf Minuten bemerkte er auf der linken Seite des Ganges, etwa in seiner Brusthöhe, eine weitere Öffnung. Max spürte einen Sog, der ihn erfasste und dort hineinzog. Er kroch hindurch in eine weitere Höhle.

Tränen standen in seinen Augen, während Max mir bei meinem Besuch erzählte, was er dort gesehen hatte.

Ein Gebilde aus Knochen. „Die Knochen waren nicht aufeinandergelegt. Es war als schwebten sie in der Luft. Wie…wie eine Schneeflocke. Aber nicht etwa wie ein Kind sie malt, sondern wie eine, die du unter dem Mikroskop in ihrer ganzen filigranen und präzisen Schönheit betrachtest.“ Max musste bei seinem Versuch, etwas zu beschreiben, das nicht zu beschreiben war, meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt haben. „Es war, als würde es Sterne regnen“, sagte er noch.

Meine Güte, Max, dachte ich am Krankenbett, du bist ja ein Dichter! „Ich weiß, es klingt irrsinnig. Natürlich versuchte ich sofort, die Knochen zu identifizieren. Denn so unwahrscheinlich es sein mochte, dort hatten also schon einmal Menschen gelebt und mit Knochen gespielt. So vermutete ich in dieser Höhle, bis ich es bemerkte: Die Knochen waren durch nichts, gar nichts miteinander verbunden.“

Max schwieg. „Als ich die Knochen berührte, schaute ich in die Zeit. Es war, als strömten all die Tausende von Jahren durch mich hindurch. Plötzlich begriff ich, verstehst du?“

Ich wusste nicht mehr, wo oben, wo unten war, als ich Max zuhörte. Ich wusste nur, dass ich komischerweise nicht eine Sekunde an seinem Verstand zweifelte und dachte: Aber wenn seine Geschichte stimmte – wo war die „Schneeflocke“ jetzt?

„Ich dokumentierte die Fundumstände. Als ich den ersten Knochen herauslöste, fiel alles in sich zusammen, natürlich. Damit hatte ich gerechnet. Leider war es, als hätte ich einen Stromkreis durchbrochen. Denn als ich versuchte, das Ganze hier wieder aufzubauen – egal, wie ich es anstellte – brachte ich nichts weiter zusammen als einen Haufen alter Knochen.“ Wir schwiegen lange. Schließlich fragte ich: „Und wo sind die Knochen jetzt?“

„Ich nahm sie mit. Die Hunderte von Skizzen, Fotografien – nein, die gibt es nicht mehr“, er winkte mit der Hand ab. „Aber du kennst alles, was wir von der Ausgrabung von Afrika mitgebracht haben.“ Ich sprang auf. „Der Terraxsaurus?“ Und besann mich: „Nein. – Die Opferstätte!“

Und ob ich diese Knochen kannte. Beim Gedanken, wie vielen Studenten ich den spektakulären Fund erläutert, wie viele Dissertationen zu diesem Thema ich betreut hatte, wurde mir schlecht. Max hatte gewusst, dass die fein säuberlich aufeinander geschichteten Knochen aus mehreren Jahrtausenden etwas ganz anderes als eine Opferstätte waren ...

Er galt schon zuvor als geschätzte Koryphäe in seinem Fach – sein Fund war eine wissenschaftliche Sensation. Dadurch hatte er es dazu gebracht, eine Legende zu werden.

„Tja“, sagte Max noch, „jetzt weißt du Bescheid.“ Erschöpft ließ er sich in seine Kissen sinken.

Wenige Tage später starb er.

Das Merkwürdige ist nur: Ich bin letztes Jahr in Afrika bei der Ausgrabung gewesen. Das Loch in der Höhlenwand habe ich nirgends gefunden.

Ariane Karbe wuchs in Berlin auf und studierte Literaturwissenschaft und Ethnologie in Berlin und Bayreuth. Sie ist als Ausstellungsmacherin und Literaturdozentin in Oldenburg tätig.

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