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Gesundheit: "Déjà vu": Gewitter im Mandelkern

Wahrscheinlich hat jeder schon einmal die irritierende Erfahrung gemacht, dass ihn eine völlig neuartige Situation auf befremdliche Weise vertraut und bekannt anmutet. Es sind diese Momente, in denen sich alle Sinne schärfen, man auf merkwürdige Weise hellwach wird und seine Umgebung ungemein stark wahrnimmt.

Wahrscheinlich hat jeder schon einmal die irritierende Erfahrung gemacht, dass ihn eine völlig neuartige Situation auf befremdliche Weise vertraut und bekannt anmutet. Es sind diese Momente, in denen sich alle Sinne schärfen, man auf merkwürdige Weise hellwach wird und seine Umgebung ungemein stark wahrnimmt. Während frühere Denker dieses gespenstische "Déjà vu" noch für eine Ausgeburt des unbewussten Seelenlebens hielten, wird es jetzt zunehmend als eine Entgleisung in der Informationsverarbeitung des Gehirns gedeutet.

Der Begriff Déjà vu geht angeblich auf Napoleon zurück. Als der auf einem Hügel bei Jena stand, die Aufstellung seines Heeres überblickte und im Morgendunst das feindliche Heer der Preußen sah, soll ihn das Gefühl beschlichen haben, er habe genau diese Szene ohne Unterschied schon einmal gesehen.

Bei einem authentischen "Schon-Gesehen-Erlebnis" weiß die betreffende Person genau, dass ihr die kritische Situation unmöglich vertraut sein kann. Da sie keine Erklärung für diesen logischen Widerspruch findet, fühlt sie sich verstört und verblüfft zugleich. Manchmal erzeugt das Ereignis aber auch lustvolle Empfindungen und die wahnhafte Gewissheit, genau vorhersagen zu können, was in den nächsten Augenblicken geschehen wird. Bei dem entgegengesetzten Phänomen, dem "Jamais vu" (nie gesehen), wird eine wohlvertraute Situation als fremdartig und "noch nie da gewesen" verkannt.

Déjà vus treten gehäuft in seelischen Belastungszuständen, nach längerer Übermüdung und nach der Einnahme aufputschender Psychodrogen auf. Déjà vus ereignen sich aber auch auffallend häufig während einer "Aura", der eigenartigen Bewusstseinstrübung unmittelbar vor einem epileptischen Anfall in bestimmten Hirnregionen. Schon-Gesehen-Erlebnisse lassen sich künstlich herbeiführen, indem man solche Hirnareale mit elektrischen Strömen reizt.

Versuchspersonen, die Uwe Wolfradt vom Institut für Psychologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in einer neuen Studie befragte, gaben an, dass die Erfahrung bei ihnen überwiegend an einem bestimmten Ort, bei einer konzentrierten Tätigkeit, zumeist für einige Sekunden, jedoch zu keiner bestimmten Tageszeit aufgetreten war. Dem Erlebnis ging zumeist eine entspannte und fröhliche Stimmungslage voraus, und es löste im typischen Fall ein Gefühl der Überraschung aus.

Der heilige Augustinus bezog sich bereits vor Jahrhunderten auf die seltsame Erfahrung, die er, wie viele spätere Denker, mit "falschen Erinnerungen" gleichsetzte. Auch für Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, war das Déjà vu eine Art Resonanz-Effekt: Eine neuartige Situation ruft Anklänge an verdrängte und unbewusste Phantasien oder an vergessene Träume hervor. In gegenwärtigen Situationen, die denen ähnlich sind, die wir in der Vergangenheit durchlebt haben, ist das Individuum möglicherweise nicht in der Lage, diese bewusst zu erinnern und erlebt nur das Gefühl, die gleiche Situation bereits erfahren zu haben.

Moderne Wissenschaftler führen das Phänomen eher auf eine Fehlfunktion im Zentralnervensystem zurück. Nach einer Theorie kommen "Doppelwahrnehmungen" vor, weil das Großhirn in zweifacher Ausführung unter der Schädeldecke existiert. Die vorherrschende (dominante) linke Großhirnhälfte empfängt Sinneseindrücke gleich doppelt: Einmal direkt von den Sinnesorganen und einmal indirekt über die rechte Großhirnhälfte, mit der sie durch Nervenfasern verbunden ist. Wenn nun der Informations-Transfer von der rechten in die linke Hirnhälfte aus irgendwelchen Gründen ins Stocken kommt und 100 Millisekunden bis eine Minute währt, geht die "Synchronisation" verloren. Dann erhält die dominante, mit dem Bewusstsein verknüpfte Hälfte den gleichen Sinneseindruck gleich zweimal hintereinander zugespielt. Daraus könnte leicht ein trügerisches Gefühl der Vertrautheit erwachsen.

Nach einer änderen Theorie lässt sich das Gedächtnis wie ein Videorecorder betrachten, der Bilder aufnehmen und wiedergeben kann. Déjà-vu-Erlebnisse treten dann auf, wenn eine Störung in der Koordination des Videorecorders stattfindet. Das Gehirn ist demnach in der Lage, Informationen gleichzeitig aufzunehmen, also zu speichern, und auch wiederzugeben, also gespeicherte Informationen abzurufen, um sie in unser Bewusstsein zu heben. Wird eine Information gleichzeitig wahrgenommen und gespeichert, so kann das neue Erlebnis bereits im Moment des Erlebens fälschlich als Erinnerung registriert werden - obwohl die Erinnerung erst gerade "geschaffen" wurde.

Deplatziertes Vertrauen

Der US-Psychologe Karl Pribram hält das Déjà vu für eine "deplatzierte Vertrautheits-Reaktion". Alle neuen und ungewöhnlichen Eindrücke rufen nach dieser Hypothese eine aktivierende "Orientierungsreaktion" hervor, weil sie neu sind, und weil neue Reize oft wichtig für uns sind. Nach wiederholter Darbietung büßt der Stimulus jedoch seinen Neuigkeitswert ein, so dass die Orientierungsreaktion abflaut. Wie Pribram ausführt, hängt das vertraut werden offenbar von der Aktivität des Mandelkerns (Amygdala) ab, einer Struktur in der Tiefe des Schläfenlappens.

Der Mandelkern steuert offenbar die emotionale Bedeutung "Vertrautheit" zur neutralen Wahrnehmung bei. Reize werden mit seiner Hilfe als bekannt eingestuft. Versuchstiere mit zerstörter Amygdala etwa verlieren die Fähigkeit, die Orientierungsreaktion bei ständig wiederholenden Reizen auszublenden. Wie gebannt wenden sie alten Reizen, denen sie sonst keine Beachtung mehr schenken würden, immer wieder ihre Aufmerksamkeit zu.

Ein Déjà vu entsteht demnach, wenn der Mandelkern überreagiert und eine neuartige Situation vorschnell mit der Gefühlsqualität "vertraut" einfärbt. So etwas könnte etwa passieren, wenn sich unkontrollierte elektrische Entladungen ausbreiten, wie bei einem epileptischen Anfall. Bemerkenswerterweise ist es nicht nur so, dass viele Epileptiker während der Aura von Déjà vus berichten. Epileptische Anfälle gehen sehr häufig vom Mandelkern aus. Man kann sich das vielleicht wie ein starkes Gewitter im Mandelkern vorstellen, was diesen überaktiviert und so unbekannte Reize als vertraut einstufen lässt. Schließlich wird so auch erklärbar, dass die elektrische Reizung des Schläfenlappens mit eingepflanzten Elektroden Déjà-vu-Erlebnisse provoziert. Wahrscheinlich landen diese Impulse direkt im Mandelkern und erregen die Schaltkreise, die das Prädikat "vertraut" verleihen.

Rolf Degen

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