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Gesundheit: Der gläserne Wurm

Auf der Suche nach Arzneien gegen Übergewicht: Das „Haustier“ der Genforscher besitzt 400 Erbanlagen fürs Fett

Der Fadenwurm „Caenorhabditis elegans“ konnte bis vor wenigen Jahren nicht behaupten, eine bedeutende Rolle in der Biologie gespielt zu haben. Das unscheinbare Tier misst mal eben einen Millimeter in der Länge, ist also mit bloßem Auge praktisch nicht zu erkennen, zumal es auch noch durchsichtig ist und sich normalerweise im Erdreich verbirgt. Und doch ist „C. elegans“ zu einem Favorit der Genforscher geworden, weil er leicht zu züchten, hervorragend zu studieren und noch dazu völlig harmlos ist – seine Lieblingsdiät sind Bakterien. Jetzt haben Wissenschaftler eine erste umfassende Analyse des Fadenwurm-Erbguts vorgelegt. Eines der Ergebnisse: rund 400 Gene sind für den Fetthaushalt zuständig – eine interessante Perspektive für die Entwicklung von Arzneien gegen Übergewicht.

Die Arbeit der Wurmforscher basiert auf der 1998 erfolgten Entzifferung des Genoms von C. elegans. Sie zeigt in hervorragender Weise, wie sich die Wissenschaftler die Ergebnisse dieser Forschung zunutze machen und mit neuen Verfahren zur Genanalyse verknüpfen können. „Funktionelle Genomik“ heißt diese Weiterentwicklung der Erbgut-Sequenzierung.

Das Ergebnis ist der „gläserne Wurm“, die Möglichkeit, die Entwicklung eines Organismus und das Zusammenspiel seiner Lebensvorgänge fast vollständig zu verstehen. C. elegans macht das möglich, weil das ausgewachsene Tier mal gerade 959 Körperzellen umfasst, sich innerhalb von drei Tagen vom Ei zum geschlechtsreifen Tier entwickelt, dann etwa 300 Eier legt und sein kurzes Leben nach zwei bis drei Wochen beschließt.

86 Prozent der Gene ausgeschaltet

Julie Ahringer von der Wellcome-Stiftung im britischen Cambridge und ihr europäisches Team mussten ein riesiges Arbeitspensum erledigen, ehe sie ihre Studie veröffentlichen konnten, die heute im Fachblatt „Nature“ erscheint. Die Forscher schalteten 86 Prozent der 19427 Gene von C. elegans aus, jedes für sich – und beobachteten, was dann passierte.

Bei 1722 Genen stellten die Forscher fest, dass ihr Abschalten das Aussehen des Tieres, den Phänotyp, veränderte. Für zwei Drittel dieser Gene war das bisher unbekannt. Waren diese Erbanlagen nicht aktiv, starb der Nachwuchs bereits als Embryo oder Larve, wuchs langsam, war unfruchtbar, hatte Fehlbildungen oder bewegte sich unkoordiniert.

Besonders gut „konservierte“ Gene, die sich in ähnlicher Form auch bei anderen höher entwickelten Lebewesen finden, spielten dabei eine dominante Rolle. Werden sie kaltgestellt, hat das besonders oft schwerwiegende Folgen für das Tier. Es handelt sich also um besonders wichtige Gene, die im Lauf der Evolution mehr oder weniger unverändert durch die Zeit reisten und sich in vielen Lebewesen ausbreiteten.

Gary Ruvkun von der Harvard Medical School im amerikanischen Boston und sein Team veröffentlichen im gleichen Heft von „Nature“ eine Detailanalyse der Gene. Ihnen ging es nur darum, festzustellen, welche Erbanlagen auf den Fettstoffwechsel wirken. Um das herauszubekommen, knipsten sie 16757 Wurm-Gene aus – jedes für sich, wie die Kollegen im britischen Cambridge. Außerdem gaben sie den Würmern einen fluoreszierenden Farbstoff zu fressen. Das ermöglichte es, die Fetttröpfchen in den Darmzellen des Wurms zu erkennen und abzuschätzen, wie einzelne Gene am Speichern oder Abschmelzen von Fett beteiligt sind.

Das Ergebnis: 305 Erbanlagen bauen Fett ab, 112 lassen es wachsen. Viele dieser Gene enthalten den Bauplan für Andockstellen auf den Zellen, Transportkanäle in den Zellwänden oder Biokatalysatoren. Das dürfte Arzneiforscher interessieren, die Ansatzpunkte für neue Medikamente zum Beispiel gegen Fettstoffwechselstörungen oder Gewichtsprobleme suchen. Schließlich sind mehr als die Hälfte der Wurm-Gene weitgehend baugleich mit unseren Erbinformationen.

Panorama-Aufnahme aus der Natur

Ohne Frage werden dieser ersten umfassenden genetischen Nabelschau weitere folgen, mit anderen Fragestellungen oder an anderen „Modellorganismen“. Bis vor kurzem wären solche Panorama-Aufnahmen aus dem Reich des Lebens undenkbar gewesen. Möglich gemacht hat das ein Verfahren namens RNS-Interferenz. Es beruht auf natürlichen Vorgängen und wurde 1998 erstmals beobachtet – natürlich von Wurmforschern. Die jetzt vorgelegten Studien basieren auf der neuen Methode und zeigen eindrucksvoll ihr großes Potenzial. Technisch verfeinert funktioniert es auch bei Säugetieren.

Was ist RNS-Interferenz? Mit dieser Technik wehren sich tierische oder pflanzliche Zellen gegen unliebsame Eindringlinge wie Viren oder dagegen, dass sich parasitäre Erbsubstanz immer weiter ausbreitet. Die Zelle erkennt doppelsträngige RNS, die von „unerwünschten“ Viren oder anderer parasitärer Erbinformation stammt. RNS ist nah mit DNS verwandt, der chemischen Grundlage der Erbinformation, und überträgt den genetischen Bauplan zu den Eiweißfabriken der Zelle, wo die Blaupause in Proteine umgesetzt wird.

Der Zelle ist die doppelsträngige RNS verdächtig. Sie zerlegt sie in kurze Schnipsel, mit deren Hilfe in einem komplizierten und noch nicht völlig geklärten Prozess das dazu passende Gen stillgelegt wird. Sein Bauplan wird nicht mehr in die Tat umgesetzt.

Die Forscher kopieren diesen natürlichen Vorgang, indem sie RNS in die Zelle einschleusen – prompt wird das zugehörige Gen zum Schweigen gebracht. Bei C. elegans reicht es sogar, wenn die Tiere die RNS einfach in ihrem Bakterienfutter verabreicht bekommen. Schon verstummt genau jenes Gen im Wurm, das das Gegenstück zur RNS ist. Binnen kurzem dürften nun weitere Genom-Analysen folgen, an tierischen wie an menschlichen Zellen. „Die Jagd beginnt“, sagt Thomas Tuschl, RNS-Bastler an der New Yorker Rockefeller-Universität.

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