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Gesundheit: Der Hunger als Koch und Retter der Welt

In meiner Kindheit trugen wir den Fussball in einem Einkaufsnetz zum Spielplatz: in der Hand die Schlaufe, den Ball umschloss das engmaschige Netz. Ähnlich umfassen unsere Erde die Autobahnen und die unsichtbaren Netze der Info-Highways, Myriaden von Telefonleitungen bis hin zu immer engeren Geflechten von Internet-Links.

In meiner Kindheit trugen wir den Fussball in einem Einkaufsnetz zum Spielplatz: in der Hand die Schlaufe, den Ball umschloss das engmaschige Netz. Ähnlich umfassen unsere Erde die Autobahnen und die unsichtbaren Netze der Info-Highways, Myriaden von Telefonleitungen bis hin zu immer engeren Geflechten von Internet-Links. So oft ich mir das vorstelle, fühle ich mich in Sicherheit. Wir werden nicht ins Nichts entgleiten. Auch stört mich nicht, dass ich nicht weiß, wer die Schlaufe der Einkaufstasche hält. Kein Kaiser und kein Präsident, so viel ist gewiss; niemand also, der einen Fehler begehen könnte. Ich halte es für beruhigend, dass wir in der Hand unsichtbarer, unbegreifbarer, unbenennbarer Kräfte sind, denn diese Attribute sind bislang ausschließlich Göttern zugesprochen worden.

Meine Instinkte raten mir, dass es am besten wäre, wenn sich unsere Zivilisation in der gegebenen Richtung und im gegebenen Tempo weiterentwickelte. Im 21. Jahrhundert, in dem ich bis zu den äußersten Grenzen der menschlichen Möglichkeiten leben möchte, müssen wir lediglich das Massenelend der sogenannten Dritten Welt beseitigen. Dazu zwingen uns die heilsame Entwicklung der Nachrichtentechnik und die noch heilsamere Freiheit des Fernsehens. Die Gabel bleibt uns in der Hand stecken, und auf ihr der Happen Wildschwein, während der Blick auf den Teil des kleinen eriträischen Jungen fällt, wo wir unser Gesicht tragen, und von dem weder er noch seine skelettöse Mutter es schaffen, die unersättlichen Fliegen zu verscheuchen. Wir wiederum vermögen den Gedanken nicht zu verscheuchen, dass zwischen dem Happen Wildschwein und dem gesehenen Bild ein Zusammenhang besteht. Dennoch tun wir so, als ob auf der Dritten Welt eine Naturkatastrophe laste, eine Art Pestepidemie. Deshalb schließen wir die Grenzen der wohlhabenden und der zu ihnen aufschließenden Länder vor der Seuche luftdicht ab.

Ich glaube nicht, dass uns diese Vorkehrung im kommenden Jahrhundert vor dem Ansturm des fremden Elends bewahren wird. Wäre es unserer nicht würdiger, wenn wir uns dies eingestünden und diese einzige noch einer Lösung harrende Aufgabe lösten? Jonathan Swift regte bereits 1729 an, ein Sechstel der sowieso am Hunger sterbenden irischen Kinder als Zuchttiere aufzuziehen - auf jedes männliche kämen drei weibliche -, die übrigen aber innerhalb eines Jahres auf 28 Pfund hochzumästen, dann abzuschlachten und - denn es handelt sich um teures Fleisch - an wohlhabende Familien zu verkaufen. So wäre der Hungertod abgeschafft, denn die Zuchtmenschen könnten von dem für ihre Kinder erhaltenen Geld leben; und auch die Gefahr der Übervölkerung - füge ich, auf unsere heutige Welt bezogen, hinzu - wäre beseitigt. Diese Lösung täte selbst den moralischsten Anforderungen des Papstes Genüge, denn die Eltern würden unter diesen Umständen weder auf die Abtreibung noch auf andere Methoden der Geburtenregelung zurückgreifen.

Swift brachte seinen bescheidenen Vorschlag guten Mutes vor, "denn es ist wohlbekannt, dass sie Tag für Tag sterben und verrotten, durch Kälte und Hunger, Dreck und Läuse, so schnell, wie vernünftigerweise erwartet werden kann". Außer dem Hauptnutzen erhoffte er von dem Gesetz noch andere Vorteile. Zum Beispiel: Die Mütter würden künftig zärtlicher mit ihren Kindern umgehen, die Männer wären stolz auf ihre gebärfreudigen Frauen, und so weiter. Um die Geneigtheit des Londoner Parlaments zu gewinnen, betonte Swift, dass er seine Reform nur auf Irland beschränkten wollte, wo die Ärmsten sowieso Katholiken sind.

Unsere Entwicklung ist jedoch eine globale, auch ihren Schattenseiten müssen wir also global ins Auge sehen. Im 20. Jahrhundert experimentierte man bloß sporadisch mit dieser einzigen Lösung. Die Bewohner von Todeslagern aßen einander auf, damit jemand von ihnen am Leben bliebe. In südamerikanischen Slums stößt man da und dort auf die Knochen verschwundener Kinder. Ärzte verkaufen die wertvollen Organe frisch Verstorbener; Verbrecher morden bereits, um in den Besitz solcher Organe zu kommen. An diese Möglichkeit konnte Swift noch nicht denken. Auch aus medizinischen Gründen könnten wir züchten lassen, die sich stürmisch entfaltende Genetik eilt uns dabei zu Hilfe.

In meinem 21. Jahrhundert überwinden wir die einzige peinsame Schattenseite unserer Zivilisation. Wir tun es, ohne zu lügen. So werden wir mit gutem Gewissen vor dem Bildschirm speisen können.

István Eörsi

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