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Gesundheit: Der letzte Strohhalm

Gelähmt bei klarem Verstand: Das Nervenleiden ALS lässt Kranke wie den Maler Jörg Immendorff zu fragwürdigen Zelltherapien greifen

Göttinger Forscher pflanzten Affen menschliche Nervenzellen ein, die sie aus embryonalen Stammzellen gewonnen hatten. Solche Versuche erregen in Deutschland Aufsehen und Entrüstung. In China ist man schon einen Schritt weiter. Dort behandelt der Neurochirurg Huang Hongyun nicht Tiere, sondern Menschen. Er spritzt Kranken mit schweren Nervenleiden Hüllzellen des menschlichen Riechnervs in das Gehirn. Die Quelle des Zellersatzes: abgetriebene Föten. „Die Frauen haben ihr Einverständnis gegeben“, zitierte das Magazin „Spiegel“ den Mediziner. „Außerdem würden die Föten sonst im Müll landen.“

Einer von Huangs Patienten ist der deutsche Maler Jörg Immendorff, 59, Schüler von Joseph Beuys und einer der „Jungen Wilden“, die in den 80er Jahren in der internationalen Kunstszene Furore machten. Immendorff ließ sich vor einigen Monaten im Pekinger West Berge Krankenhaus von Huang behandeln. Denn der Künstler leidet seit sieben Jahren an dem unheilbaren Nervenleiden Amyotrophe Lateralsklerose, abgekürzt ALS. Bei der ALS werden jene Nervenzellen zerstört, die die Bewegung der Muskeln steuern. Das Opfer wird bei klarem Verstand gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt, bis am Ende die Atemmuskulatur versagt. Dann kann nur noch eine Beatmungsmaschine den bewegungslosen Körper am Leben erhalten. Doch entscheiden sich die meisten dagegen.

Die ALS gehört wie die Schüttellähmung (Parkinson), Alzheimer und der erbliche Veitstanz (Huntington) zu den neurodegenerativen Krankheiten. Bei diesen unheilbaren und noch immer kaum aufgeklärten Krankheiten sterben Nervenzellen ab. Gerade ALS-Patienten klammern sich angesichts eines fortschreitenden Verfalls an jeden Strohhalm. Aber bislang haben Medikamente und Therapien kaum Erfolg gezeigt. Das einzige offiziell zugelassene Medikament ist Riluzol, das die Wirkung des Botenstoffs Glutamat im Gehirn abschwächt und die Krankheit verlangsamen kann, ohne sie jedoch entscheidend zu beeinflussen. „Die Patienten fahren auch zu Wunderheilern und Handauflegern“, sagt Peter Linke, Neurologe in der ALS–Ambulanz der Berliner Charité, die auch Immendorff behandelt. „Die Hoffnung ist der Motor.“

Und was denkt Linke über die Versuche seines Pekinger Kollegen? „Er bohrt Löcher in Köpfe“, kommentiert der Mediziner. „Viel mehr können wir nicht sagen – es gibt keine Dokumentation über die Experimente, keine wissenschaftliche Auswertung, keine vernünftigen Arztbriefe.“ Für Linke ist das „grobe Scharlatanerie“, mit der eine Notsituation ausgenutzt wird. 20000 Dollar soll der riskante Eingriff die wohlhabenden Westler kosten. Berichte von Patienten, die schon kurz nach dem Eingriff eine Besserung bemerken, interpretiert Linke als Placebo-Effekt, wie er nach Operationen häufig ist. Denn Nerven wachsen sehr langsam. Wenn überhaupt, wäre eine Linderung erst nach Monaten feststellbar.

„Professor Immendorffs Zustand ist unverändert – stabil, aber nicht verbessert“, sagt Thomas Meyer, Leiter der ALS-Ambulanz an der Charité und Immendorffs behandelnder Arzt.

Das Gehirn ist ein Geflecht aus Milliarden von Zellen, die billionenfach miteinander verwoben sind. Eine Krankheit wie die ALS hat weite Teile dieses Gewebes durchlöchert, noch dazu an vielen Stellen in Gehirn und Rückenmark. Deshalb ist es schon theoretisch undenkbar, dass an irgendwelchen Gebieten hineingeträufelte fremde Zellen eine Heilung bewirken können. Das wiederum heißt nicht, dass Stammzellen nicht doch helfen können, die ausgefallenen Nervenzellen zu ersetzen. „Aber solche Therapien wird es erst in Jahrzehnten geben – wenn sie nicht ohnehin am Geldmangel scheitern“, sagt Meyer. wez

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