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Gesundheit: Der Moralinstinkt

Unser Gewissen steckt teilweise in den Genen – behauptet ein US-Psychologe

Drei Szenen, drei Tests, die Ihrem Gewissen auf den Grund gehen:

Szene 1. Sie stehen neben einem Bahngleis an einer Weiche. Ein außer Kontrolle geratener Waggon rast auf fünf Eisenbahnarbeiter zu. Auf einem Seitengleis steht ein einziger Mann. Tun Sie nichts, wird der Waggon die fünf Arbeiter töten. Legen Sie den Hebel um, retten Sie die fünf, töten aber den einen Mann. Ist es okay, die Weiche umzulegen?

Szene 2. Sie gehen an einem Teich vorbei, in dem gerade ein Kind ertrinkt. Steigen Sie in den Teich, können Sie das Kind retten, aber Ihre Hose ist ruiniert. Müssen Sie in den Teich steigen?

Szene 3. Fünf Menschen werden in ein Krankenhaus eingeliefert, jeder von ihnen braucht ein Organ, um überleben zu können. Die Zeit rennt. Im Wartezimmer des Krankenhauses sitzt eine gesunde Person. Würde man ihr die Organe entnehmen, stirbt sie, aber das Leben der fünf Verletzten wäre gerettet. Darf man dem Gesunden die Organe nehmen?

Die drei Szenen sind nicht etwa einem Horrorhandbuch entnommen, sondern der Internetseite des Psychologen Marc Hauser von der Harvard-Universität im amerikanischen Cambridge ( http://moral.wjh.edu ). Sie sind Teil eines Tests, mit dem der Forscher Belege sammelt für eine waghalsige Hypothese. Sie lautet: Unser Empfinden dafür, was Gut und was Böse ist, resultiert nicht etwa nur aus unserer Erziehung, sondern ist uns auch angeboren. Jeder, so Hauser, kommt mit einem Moralinstinkt zur Welt.

Tausende von Testpersonen haben die Versuche Hausers schon mitgemacht, jung und alt, gebildet und weniger gebildet, aus allen Herren Länder – und doch: egal, ob Christ oder Atheist, ob Jude oder Buddhist, ob mit Dr. oder ohne, ob Metzger oder Professor: Stets antworten die Menschen verblüffend ähnlich.

Was beispielsweise Szene 1 betrifft, so meinen 90 Prozent aller Teilnehmer, es sei erlaubt, den Hebel umzulegen. 97 Prozent finden, es sei ein Muss, das Kind in Szene 2 zu retten. Ebenfalls 97 Prozent lehnen die Organentnahme des Gesunden in Szene 3 strikt ab.

Was sich wie eine Selbstverständlichkeit anhören mag, wirft eine uralte Frage der Religion und Philosophie auf: Woher kommt das moralische Gesetz in uns? Wer oder was bestimmt eigentlich jenes seltsame Empfinden in uns, das wir Gewissen nennen? Für den Harvard-Forscher Hauser stellt sich die Frage anders: Wieso ähnelt sich das moralische Urteil verschiedener Leute so stark? Die Erklärung des Wissenschaftlers: Unser Moralempfinden ist eben nicht nur eine Sache der Kultur, sondern auch eine der Natur. „Moral steckt im Erbgut“, sagt Hauser.

Und offenbar ist die Macht der Moralgene so stark, dass selbst Menschen unterschiedlichster Erdwinkel in einigen Grundfragen des Gewissens identisch urteilen. Auch Atheisten urteilen oft keinen Deut anders über Gut und Böse als religiöse Menschen. Wie es scheint, sind manche unserer Moralurteile „immun gegen religiöse Doktrin“, schreibt Hauser in seinem gerade erschienenen Buch „Moral Minds“ (Ecco, New York).

Hauser ist nicht der Einzige, der derzeit versucht, der Moral naturwissenschaftlich beizukommen. Was ehemals als Hoheitsgebiet von Religion und Philosophie galt, soll nun mit Experimenten und Kernspintomografen durchleuchtet werden. So haben Hirnforscher vor einigen Jahren eine spezielle Art von Nervenzellen entdeckt, in denen manche schon die biologische Basis der Moral zu erkennen meinen: die „Spiegelneuronen“. Diese Zellen werden nicht nur aktiv, wenn wir selber etwas tun, sondern reagieren auch, wenn wir das gleiche Verhalten bei einem Mitmenschen beobachten. Beispiel: Wenn wir weinen, ist in unserem Kopf ein spezifisches Muster von Hirnregionen aktiv, die uns weinen lassen. Sehen wir, wie ein Freund von uns weint, wird ein Teil eben dieses Musters auch in unserem Kopf aktiviert. Die Folge ist: Wir müssen nicht lange darüber grübeln, in welchem Zustand sich unser Freund befindet, wir spüren es intuitiv. Sein Schmerz wird buchstäblich zu unserem Schmerz.

Einige meinen: Diese Hirnzellen, die unser Gegenüber „spiegeln“, seien die hirnphysiologische Grundlage unseres Mitgefühls und moralischer Imperative wie „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge auch keinem andern zu“. Und nicht nur in Menschen, sondern auch in Affen hat man Spiegelneuronen gefunden – Mitgefühl könnte somit nicht etwas exklusiv Menschliches, sondern in rudimentärer Form schon bei unseren haarigen Vettern angelegt sein. „Für Mitgefühl braucht man keine christliche Erziehung“, sagt der Hirnforscher und Spiegelneuronen-Experte Christian Keysers von der Universität Groningen. „Es ist fest in unseren Gehirnen verankert.“

Und doch, wenn wir mit Mitgefühl und sogar einem universellen Moralinstinkt durch den Geburtskanal kommen, woher stammt dann die enorme Vielfalt moralischer Empfindungen? Eskimos gestatten den Kindsmord, wenn die Ressourcen knapp werden – für uns ein absolutes Tabu. Ehrenmorde, die uns anwidern, sind in einigen Weltregionen nicht nur erlaubt, sondern gelten geradezu als gut. Wie kann das sein? Ist etwa eine ganze Palette diverser Moralgene im Umlauf?

Nein. Hauser vergleicht den Moralinstinkt stattdessen mit der Theorie, die sein Kollege Noam Chomsky bereits in den 1950er und 1960er Jahren über die Sprache aufgestellt hat. Demnach kommen wir alle mit einigen wenigen Grundregeln der Grammatik zur Welt. Nur so lässt sich erklären, dass wir so schnell etwas so Komplexes wie die Sprache lernen – und dass alle Sprachen einige grammatikalische Grundkonstanten aufweisen. Ob wir jedoch am Ende Finnisch sprechen oder Chinesisch, das ist selbstverständlich eine Sache der Erziehung.

Ähnlich, so Hauser, verhält es sich mit der Moral: Es gibt eine Handvoll universeller Werte, die von Geburt an in unseren Gehirnen schlummern. So wie die Grundregeln der Sprache, so sind uns auch diese Werte nicht bewusst. Und doch bestimmen sie das Gerüst einer universellen Ethik. Das Gewicht, das wir den Grundwerten beimessen, wird jedoch von unser Erziehung bestimmt.

Eine der universellen Regeln des Moralinstinkts lautet nach Auffassung des Harvard-Forschers: Handlungen, die Böses bewirken, sind schlimmer als unterlassene Handlungen, die das Gleiche bewirken. Beispiel: Bei passiver und aktiver Euthanasie geht es, rein logisch gesehen, in beiden Fällen darum, das Leiden eines Menschen zu beenden. In beiden Fällen stirbt die Person. Der Unterschied ist: Bei passiver Euthanasie stirbt sie, weil wir unsere Hilfe unterlassen. Bei aktiver Euthanasie müssen wir dazu aktiv eingreifen. Also erscheint es uns intuitiv eher akzeptabel, einen Menschen an seinen Leiden sterben zu lassen, als ihn zu töten. Ähnlich ist es, wenn es uns schwerfällt, das Abschießen eines entführten Passagierflugzeuges gutzuheißen – auch wenn es dafür vielleicht rationale Gründe gibt.

Hauser und seine Kollegen sind derzeit dabei, weitere solcher – in ihren Augen – universeller Moralregeln zu erforschen. Kritiker dagegen wie etwa der US-Philosoph Richard Rorty meinen, das Projekt sei zum Scheitern verurteilt, weil man kaum herausfinden könne, was nun die universelle Regel und was der Beitrag der Kultur sei.

Selbst wenn Hauser recht haben sollte, eines lässt sich sicher nicht aus den Genen und Hirnwindungen herauslesen: das, was wir am Ende tun sollen. Sogar wenn uns unser Moralinstinkt intuitiv die eine oder andere Handlung als richtig oder falsch nahe legen sollte – über Gut und Böse soll schließlich nicht die Natur entscheiden, sondern wir.

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