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Gesundheit: Die Bücherfresser

Bibliothekare warnen vor Papierzerfall. Dramatische Lage in Deutschland

Das kulturelle Gedächtnis einer Nation geht verloren, wenn sie ihre Bücher verliert. In Deutschland ist die Lage dramatisch. 800 Jahre können Bücher halten, die auf modernes Papier gedruckt sind. Entsäuertes Holzschliffpapier wird mit einer Haltbarkeit von 400 Jahren kalkuliert. Die Millionen Bücher, die zwischen 1850 und 1970 weltweit gedruckt wurden, bestehen jedoch aus einem Papier, das zunächst eine bräunliche Farbe annimmt, dann an den Rändern ausfranst, beim Umblättern in Fetzen geht – bis es eines Tages zu Staub zerfällt. 97 Prozent der Bücher aus der Epoche von 1850 bis 1970 sind vom Verfall bedroht. Das sind in Deutschland rund 60 Millionen Bücher.

Für diese Buchbestände, sagte der Germanist und Wissenschaftsmanager Wolfgang Frühwald jetzt bei einem Kongress für europäische Bucherhaltung in Leipzig, „ist es nicht mehr fünf Minuten vor zwölf, sondern längst schon dreiviertel drei Uhr. Und die Uhr bleibt nicht stehen.“ Die Kultusminister haben schon 1993 empfohlen, ein Prozent des Erwerbungsetats der Bibliotheken für die Bestandserhaltung aufzuwenden. „Wir sind von der Empfehlung der Kultusminister noch weit entfernt“, beklagte Frühwald. Andere Länder wie die Schweiz und die Niederlande haben die Restaurierung längst zur nationalen Aufgabe gemacht und finanzieren sie aus dem Bildungs- und Kulturhaushalt.

Was kann man überhaupt tun, um den Verfall zu stoppen? Weit verbreitet sind Massenentsäuerungsverfahren, bei denen die säurehaltigen Bücher einer Heißluftbehandlung unterzogen werden, um die Säure aus dem Papier zu entfernen. Die zur Verfügung stehenden Gelder reichen jedoch bei weitem nicht aus, um selbst in einem Massenverfahren die notwendigen Quantitäten zu erreichen.

Das zeigt das Beispiel der Staatsbibliothek zu Berlin, die nach Jahren des Zögerns jetzt zum Schrittmacher geworden ist. Rund 1,5 Millionen Bände müssten dort umgehend entsäuert werden, erklärte der Abteilungsleiter für Bestandserhaltung, Andreas Mälck, in Leipzig. Bisher schafft die Staatsbibliothek aber nur eine Entsäuerung von jährlich 11 000 bis 26 000 Büchern. Dafür werden 300 000 Euro pro Jahr benötigt.

Die Entsäuerung ist nicht der einzige Sanierungsfall. Auch die Bucheinbände zerbröseln, verbiegen sich oder bestehen nur noch aus Bruchstücken. Um 10 000 Bücher pro Jahr mit neuen Einbänden zu versehen, müssen 400 000 Euro aufgebracht werden. Und für ganz wertvolle Dokumente wie die vom Tintenfraß beschädigten Handschriften berühmter Dichter, Philosophen oder Komponisten muss das Papier gespalten und mit neuen Einlagen stabilisiert werden. Das kostet die „Stabi“ jährlich 20 000 bis 40 000 Euro.

Nun gibt es noch andere Verfahren, um das Gedächtnis der Nation in den Bibliotheken zu bewahren: Die Mikroverfilmung hat sich national und international bewährt, um besonders die auf billigem Papier gedruckten Zeitungsbestände für die Nachwelt zu erhalten. Immerhin sollen Mikrofilmen 300 bis 500 Jahre halten. Auch für die Bücher aus der Anfangszeit des Buchdrucks, die mit Prunkschriften und kunstvoll gemalten Bildern versehen sind, ist die Mikroverfilmung ein probates Mittel. Werden doch dadurch die Buchinhalte für den Forscher wieder zugänglich, ohne dass die alten und besonders schützenswerten Bestände aus den Magazinen geholt und in die Hände der Benutzer gegeben werden müssen.

Die Mikroverfilmung ist immer noch sicherer als die modische Digitalisierung. Zwar werden auch bei der Digitalisierung die Buch- und Dokumentenseiten verfilmt, um anschließend auf CDs oder DVDs gespeichert zu werden. Aber der technische Fortschritt ist so rasant, dass man sich nicht darauf verlassen kann, ob in zehn Jahren noch Geräte zur Verfügung stehen, auf denen man die heute gängigen Formate abspielen kann. Die Nutzbarkeit digitalisierter Aufnahmen wird von den Bibliothekswissenschaftlern auf nur fünf bis 30 Jahre geschätzt.

Vierzehn führende deutsche Bibliotheken haben sich im Jahr 2001 zu einer Allianz zusammengeschlossen, um als Pressuregroup die Bestandserhaltung als nationale Aufgabe in Deutschland zu propagieren. Zu dieser Allianz gehören die Staatsbibliothek in Berlin, die Bayerische Staatsbibliothek München, die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main, die Deutsche Bücherei Leipzig, das Bundesarchiv Koblenz, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Sächsische Landesbibliothek in Dresden, die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen und die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar.

In Leipzig erneuerte die Allianz ihre Forderungen: Bund und Länder sollen nicht nur für die Neuanschaffung von Büchern und Zeitschriften Gelder zur Verfügung stellen, sondern auch für die Bestandserhaltung und Restaurierung sorgen. Erste Hilfen kamen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der VW-Stiftung. Aber mehr als Anstöße können sie nicht geben. Deswegen kündigte die Leiterin der Deutschen Bücherei in Leipzig, Birgit Schneider, eine neue Initiative an: Um von privaten Banken und Wirtschaftsunternehmen Hilfsgelder einwerben zu können, will die Allianz eine „Deutsche Stiftung schriftliches Kulturerbe“ ins Leben rufen.

Andere Länder mögen weiter sein als Deutschland, aber angesichts des grenzüberschreitenden Problems der Bestände von 1850 bis 1975 droht das kulturelle Gedächtnis einer ganzen Epoche verloren zu gehen: So sind in der amerikanischen Library of Congress 25 Prozent der Bestände gefährdet. In Großbritannien schätzt man, dass 13 Prozent der Bücher in den Bibliotheken und 80 Prozent aller aufbewahrten Zeitungen beschädigt sind. In den Niederlanden hat man bei 25 Prozent der Bestände Schäden durch hohen Säuregehalt festgestellt. Das sind in absoluten Zahlen etwa 100 Millionen Bücher, Zeitschriften und Manuskripte.

Wolfgang Frühwald mahnt zur Eile: „Wer die Spuren dieses Zeitalters verwischt, wird weder Marx noch Hegel, weder Darwin noch Nietzsche, weder Flaubert noch Dickens, weder Tolstoi noch Dostojewski, weder Einstein noch Röntgen richtig einzuordnen vermögen.“

Uwe Schlicht[Leipzig]

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