zum Hauptinhalt

Gesundheit: Die ersten Jahre: nur Bücher und Leichen

Erst nach vielen Semestern sieht der Medizinstudent seinen ersten Patienten / Serie Studiengänge: MedizinVON EVA WEISSMandy reißt sich den Schlauch aus dem Mund und japst."Ich kann nicht mehr!

Erst nach vielen Semestern sieht der Medizinstudent seinen ersten Patienten / Serie Studiengänge: MedizinVON EVA WEISSMandy reißt sich den Schlauch aus dem Mund und japst."Ich kann nicht mehr! Da kommt ja gar keine Luft mehr." Ein kohlendioxidreiches Gasgemisch zu atmen, fühlt sich so an: "Ich hatte Druck auf den Ohren, Schweißausbruch, schwindlig wurde es mir, so beduselt." Kein Kick einer neuen Extremsportart sondern das Medizinstudium im dritten Semester."Atmung", wie sie im Physiologiepraktikum gelehrt wird."Ihr seht, daß man auf einen relativ geringen CO2-Anstieg schon heftig reagiert." Daniel, Tutor des Praktikums und Student im achten Semester, erklärt an Mandys heroischem Selbstversuch, was uns überhaupt zum Atmen bringt und unter welchen Störungen im "Atembetrieb" etwa Asthmatiker zu leiden haben: "Das Schöne an der Physiologie ist, daß sie von den vorklinischen Fächern den meisten Bezug zur Klinik hat".In der Vorklinik, den vier Semestern bis zur Ärztlichen Vorprüfung, liegt die eigentliche Medizin noch in weiter Ferne.Der Anfänger lernt in Chemie, wie Moleküle gebaut und geladen sind, in Physik, wie Oszilloskope funktionieren, in Biologie, wie Pflanzen bestimmt werden.Patienten sieht er keine, nur Leichen: in der Anatomie lernt er, wie jede einzelne Rauhigkeit an unseren Knochen mit lateinischem Namen heißt.Dieses Wissen wird nicht wie in der Schule in leichtverdaulichen Häppchen nach und nach angeboten, sondern in großen Klöpsen präsentiert, die in kurzer Zeit verschlungen und verdaut sein wollen.Ulla lernt gerade für das Anatomietestat alle Muskeln und ihre Bewegungen auswendig."Man denkt immer, man sei an seine Belastungsgrenze herangekommen und ist dann doch erstaunt, daß noch mehr geht." Das Lernen sei "unglaublich zeitintensiv", erzählt sie."Sobald du etwas anderes in die Hand nimmst, hast du ein schlechtes Gewissen.Aber wenn es einen richtig interessiert, macht einem die Lernerei auch nichts aus.Das faszinierende ist einfach die Genialität des menschlichen Organismus.Das ist alles so perfekt und tausendfach abgesichert."Medizin und Germanistik - das sind die beiden stärksten Studiengänge in Deutschland.Der eine - Medizin - ist am meisten, der andere - Germanistik - am wenigsten verschult."Mediziner klagen vor allem über Motivationsprobleme, gerade weil alles so fest liegt", sagt Hans Werner Rückert von der psychologischen Beratung an der FU.Denn in den ersten vier Jahren müssen sich die Mediziner durch ein festes Programm mit vielen Prüfungen ackern: Vier Semester bis zum Physikum, dann sechs klinische Semester mit zwei Staatsexamina und danach - oder besser noch: nebenbei - eine Doktorarbeit.Wer bis dahin durchgehalten hat (Statistiken zufolge ungefähr 90 Prozent!), arbeitet noch zwei Jahre in der Klinik, erst im Praktischen Jahr (PJ), später als Arzt in der Praxis (AiP).Bevor er sich aber AiP nennen kann, darf er nochmal kräftig Stoff für das dritte Staatsexamen auswendig lernen.Und erst dann - nach sechs Jahren Studium - ist es dem Medizinstudenten vergönnt, in einem Wahlfach Schwerpunkte zu setzen.Bis dahin hat er die direkten klinischen Fächer wie Chirurgie und Innere Medizin wieder und wieder durchgepaukt, daneben auch einiges über Hygiene und Rechtsmedizin gelernt.Wie das durchhalten? Wer nur mit einem Einser-Abi geglänzt hat oder das Helfersyndrom verspürt, wer lediglich aus einer Arztfamilie stammt oder wer sich nach der Rolle des "Halbgottes in Weiß" sehnt - der wird sich kaum bis zum Ende motivieren können.Nur wer auch während seines Studiums mal in einem Krankenhaus arbeitet oder zumindest Patienten tröstet, weiß, wofür er lernt.Carola Jänsch tritt im Frühjahr zum zweiten Staatsexamen an.Sie ist schon über einige Krankenhausflure geeilt.Ihr Ziel: die Innere Medizin - eines der gefragtesten Fächer."Die Arzttätigkeit an sich ist unheimlich faszinierend, die Kombination aus Naturwissenschaft und der Frage, wie kann ich helfen?"Um das Studium nicht bis zum zweiten Staatsexamen als reiner Zaungast zu erleben, muß sich der Mediziner selbst um praktische Erfahrungen kümmern: Drei Monate in einem Krankenhaus und ein Monat bei einem niedergelassenen Arzt sind Vorschrift, ob in Tansania oder Berlin, ist egal.Viele jobben obendrein, im Krankenhaus oder beim Rettungsdienst.Ulla zum Beispiel.Sie findet das praxisferne Studieren in Deutschland "bedrückend.Du bist weit davon entfernt, irgendwann mal eine Spritze zu geben.Ich bin froh, daß ich nebenher beim Rettungsdienst mitgefahren bin".Der Vorwurf der Praxisferne ist alt.Schon 1969 ist in der Zeitschrift Wirtschaft und Wissenschaft zu lesen: "Die große Reform des Medizinstudiums läßt auf sich warten.Sieht man, wie rasant sich die Möglichkeiten und Anforderungen der Medizin in den letzten 100 Jahren verändert haben, so kann man das vom Studienablauf nicht behaupten."Die Psychologin Ulrike Gutermann ist am FU-Dekanat zuständig für Lehre und Studium."Die Konkurrenz zwischen der HU und uns hat eigentlich auf den Lehrbetrieb belebend gewirkt." Die Medizinstudenten bewerten die Professoren, sitzen in der Ausbildungskomission und nehmen mehr und mehr Einfluß auf die Gestaltung der Kurse.Sie setzen sich für mehr Praxisnähe ein.Die HU will ihren Studenten im nächsten Wintersemester einen neuen Studiengang anbieten, der aber erst mit der Verabschiedung der neuen Aprobationsordnung durch den Bundesrat abgesegnet werden muß.POL - Problemorientiertes Lernen heißt das Zauberwort.Schon jetzt bieten Ärzte Praktika und Kurse nach dieser Lernstrategie an; überdies organisieren Holger Flick und andere Studenten Seminare am Virchow-Klinikum: "Bisher steht am Anfang die Naturwissenschaft und ganz am Ende kommt der Patient.Hier soll der Patient am Anfang stehen." Vom ersten Semester an lernen die Studenten von praktischen Fällen ausgehend.Sie müssen zum Beispiel überlegen, an welcher Krankheit eine Frau mit Kopfschmerzen und Schluckstörungen leiden könnte.Auch die höheren Semester sinnieren über solche Fallbeispiele.Je länger sie studieren, desto tiefer wird ihr Verständnis für die verschiedenen Krankheitsbilder, so die pädagogische These."Ich kann nur empfehlen - auch den Studienanfängern - sich möglichst zeitig auf die Dinge zu stürzen, die später relevant sind". Bisher erschienen: Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (26.5.97), Skandinavistik (9.6.), Politologie (1.7.), Kulturwissenschaft (17.7.) Maschinenbau (14.8.), Germanistik (11.9.), Instrumentalstudium (2.10.), Biologie (4.10.).

EVA WEISS

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false