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Gesundheit: Die Evolution des Gehirns

Das globale Computernetz ist das logische Endziel der Evolution, die sich im menschlichen Kopf materialisiert hatGerhard Neuweiler Als das erste Gehalt meines Lebens auf meinem Konto lag, leistete ich mir zuallererst eine Schallplatte. Es war Rachmaninoffs 2.

Das globale Computernetz ist das logische Endziel der Evolution, die sich im menschlichen Kopf materialisiert hatGerhard Neuweiler

Als das erste Gehalt meines Lebens auf meinem Konto lag, leistete ich mir zuallererst eine Schallplatte. Es war Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert. Nach den ersten langsam aufsteigenden Klavierakkorden eröffnet das Orchester das Thema. Was da plötzlich über meine Ohren hereinbrach, ließ eine Gänsehaut über meinen Rücken laufen, und ein spontanes Glücksgefühl überkam mich.

Wie ist es möglich, dass die Ohren mit ihren wenigen Sinneszellen solche Glücksmomente vermitteln können? Tatsächlich sind es gar nicht die Ohren, die diese Klangwelt erzeugen, sondern die Neurone unseres Gehirns. Was die Musiker spielen, verteilt sich im Innenohr nur auf ein paar Dutzend Tonfilter, die ihrerseits die Abfolge der Töne über zeitlich schlampig strukturierte Impuls-Salven an das Gehirn weitergeben. Dort erst, durch Verschaltungen der Neurone, entsteht die phantastische Zeitpräzision unseres Gehörs, das dem Musiker selbst so winzige "Taktlosigkeiten" wie eine Verspätung des Einsatzes um eine Tausendstel Sekunde nicht unbemerkt durchgehen lässt. Dort erst entsteht die Klangfülle eines Orchesters, wobei der Hörer Töne wahrnimmt, die das Orchester gar nicht gespielt hat. Unser Gehirn fügt solche Grundtöne zum Wohle unseres Klangeindruckes aus eigener Kraft und Vollkommenheit hinzu, ohne uns oder das Orchester zu fragen. Blieben die vom Orchester nicht gespielten, sondern im Gehirn erzeugten Grundtöne aus, würden wir entnervt ob des klirrenden Klangs der Streicher und Bläser den Saal verlassen. Wir hören gar nicht die nackte Realität dessen, was das Orchester spielt, sondern das, was unser höchst persönliches, eigenes und eigensinniges Gehirn daraus macht.

Wer glaubt, er sei mit den Augen näher an der objektiven Realität, täuscht sich wieder. Wenn wir einen Gegenstand anschauen, so vermindern unsere Sehneurone im Gehirn schon nach einer halben Sekunde die Empfindlichkeit für dieses Sehmuster. Diese gleichen Sehneurone reagieren aber umso empfindlicher auf jede Änderung des Sehobjekts. Die Neuronennetze des Sehgehirns dämpfen Stationäres und Gleichförmiges und akzentuieren Bewegungen und Kontraste.

Mit anderen Worten: Es gibt weder für Tier noch Mensch eine objektive Außenwelt, sondern nur Milliarden verschiedene neuronale Weltbilder. Die objektive Realität gibt es nur als statistisches Konstrukt, wenn Psychologen und Neurobiologen aus individuellen Wahrnehmungen Mittelwerte bilden und diese zur Realität erheben. Inzwischen hat das menschliche Hirn in dieser Frage den Augen und Ohren das Heft aus der Hand genommen und Messgeräte entstehen lassen, die Signale der Außenwelt unbestechlicher und unzweideutiger messen als jedes Sinnesorgan.

Es sind heute diese dem Hirn entsprungenen Geräte, die unsere Welt physikalisch und chemisch vermessen. Wir vertrauen diese Messgeräten zu Recht mehr als der eigenen, unmittelbaren Anschauung, die die Welt so gewichtet und subjektiv wahrnimmt, wie nach der Erfahrung tausender Generationen das Überleben sich optimieren ließ. Die sinnliche Wahrnehmung entspricht der Welt-Anschauung unserer Vorfahren, die der Meßgeräte ist die in der Technik als "wahre" Realität sich fortwährend beweisende Welt der Zivilisation. Trotzdem müssen wir nicht befürchten, dass wir uns in abstrusen Welten verlieren. Die Nervennetze schulen sich ständig an der real existierenden Außenwelt und spiegeln sie wieder..

Die Algorithmen im Gehirn sind das Produkt eines ständigen Zwiegesprächs des individuellen Gehirns mit der Umgebung, dessen Ergebnis über die Generationen im Genkode festgehalten wird. Je genauer allerdings die Neurobiologen das Gehirn kennen lernen, desto mehr Verschaltungen entdecken sie, die sich durch aktuelle Erfahrungen umstrukturieren lassen, also lernen. Das ererbte Weltbild ist durch persönliche Erfahrung nicht nur in der Jugend, sondern auch im Erwachsenenalter ständig modifizierbar.

Von der einfachsten Qualle bis zum Menschen bestehen Gehirne aus einer Vielzahl von kleineren Nervennetzen, die auf definierte Aufgaben spezialisiert und unter einander verknüpft sind.

Der Weg vom einfachsten Gehirn zu dem Menschen verläuft entlang dreier Entwicklungstendenzen

1) Differenzierung: Die Vielfalt der Tierarten beruht auf einer entsprechenden Vielfalt differenzierter, auf ganz bestimmte Biotope und Verhaltensweisen angepasster Verschaltungen.

2) Zentralisierung: Die Nervennetze rücken zusammen, kommunizieren eng miteinander und fassen parallel verarbeitete Informationen in Entscheidungshierarchien zusammen.

3) Masse: Die Zahl der beteiligten Neurone wächst unaufhörlich und erreicht im menschlichen Hirn die gigantische Zahl von etwa 100 Milliarden. Der Fortschritt besteht nicht in der Masse selbst, sondern in den unerschöpflichen Verknüpfungsmöglichkeiten. Gegenüber Tieren haben wir neben den festgelegten Synapsen einen ungleichen Anteil frei veränderbarer Verknüpfungsmöglichkeiten. Darauf beruht unsere besondere Lernfähigkeit und Verhaltensflexibilität.

Diese Entwicklung der Gehirne hin zum frei programmierbaren Computer ist das Ergebnis des ungeheuren Selektionsdruckes, der auf dem Nervensystem lastet. Das Gehirn als Austragungsstätte des Dialogs, des Darwinschen "struggle of life" zwischen Organismus und Außenwelt, ist dasjenige Organ, an dem sich Erfolg oder Misserfolg im Wettbewerb um die Ressourcen zu allererst entscheidet. Es ist ein zeitlich-räumlich aufs Genaueste abgestimmtes Erregungsprogramm des Gehirns und erst in zweiter Linie das Muskelpaket, das die rasante Verfolgungsjagd eines Geparden ermöglicht, es ist das Gehirn, das die Jagdstrategie eines Wolfsrudels steuert, und es ist erst recht das Gehirn, das den Webervogel seine klimatisierte Wohnröhre aus Gras weben lässt.

Konrad Lorenz hat das Primat des Hirns bildhaft so ausgedrückt: "Bevor sich bei einem Vorfahren des Maulwurfs die Vorderbeine in Grabschaufeln umwandeln konnten, musste dieses Tier erst einmal die Idee haben, zu graben." Neuronal manifeste Verhaltensintentionen, geboren aus der Auseinandersetzung mit der Umwelt sind im Tierreich die wichtigste Triebfeder der Evolution bis zum heutigen Tage, das Gehirn ist das "Zentralorgan" der Evolution.

Der Kampf um die Lebensressourcen treibt die Evolution der Gehirne in zwei entgegengesetzte Richtungen, entweder in eine immer raffinierter und enger werdende Spezialisierung oder aber, das geschah weit seltener, in eine immer breiter werdende Flexibilität und generelle Kompetenz. Die Spezialisierung verringert den Wettbewerb um eine Nahrungsressource bis zum konkurrenzfreien Zugang, hat aber den Nachteil, dass mit dem Verschwinden der spezifischen Nahrungsressource auch das darauf spezialisierte Tier verloren ist. Die auf Bambusblätter spezialisierten Pandabären können nur noch in menschlicher Obhut überleben, seit die Bambuswälder Chinas auf Restbestände dezimiert wurden.

Spezialisten, und damit der größte Teil der Tierwelt, sind unweltverhaftet und liefern sich, wie der Pandabär, ihren Biotop-Nischen aus. Generalisten dagegen suchen sich alles nur erdenklich Fressbare aus den unterschiedlichsten Biotopen zusammen. Ihr Lebensprinzip heißt ständiger Wandel, und in allen Tiergruppen sind Allesfresser diejenigen Arten, die die höchstentwickelten und intelligentesten Gehirne haben. Deshalb erfreuen sich die Generalisten, wie Ratten, Möwen oder Krähen der besten Aussichten in der zivilisierten Welt, in der sich die Umwelt in einem noch nie gekannten Tempo verändert.

Die intelligenten Allesfresser sind der schlagendste Beweis dafür, dass das Gehirn dasjenige Substrat ist, in dem sich die fortwährende Auseinandersetzung eines Organismus mit seiner lebensspendenden Außenwelt abspielt, und die Körper-Spezialisierungen, wie Grabschaufeln oder Flügel anstelle von Vorderbeinen, langen Zungen zum Herauslecken von Nektar usf. nichts anderes sind als Materialisierungen von Informationen, Informationen aus dem Gehirn, erzeugt vom Gehirn und niedergelegt im genetischen Kode. Konrad Lorenz hat diesen Tatbestand wiederum auf den Punkt gebracht: "Leben ist Fressen von Informationen", und deshalb ist das Gehirn das zentrale Substrat der Evolution. Die Neurobiologie ist die Sachwalterin des evolutiven Fortschritts, die Genetik aber nur die Buchhalterin.

So sehr sich Hirnstrukturen im Tierreich unterscheiden mögen, die Mechanismen der Informationsverarbeitung arbeiten von der Qualle bis zum Menschen nach erstaunlich gleichem Muster

An den Synapsen, den Kontaktstellen mit anderen Neuronen, werden Informationen in einem analogen Kode verarbeitet. Im Schnitt drängeln sich auf der verzweigten Membran eines Hirnneurons ca. 10000 solcher Kontakte. Mit ihrer Herkunft aus einem spezifischen Verschaltungsnetz trägt jede Nervenfaser gewissermaßen ein Etikett, das ihre Zugehörigkeit zu einem funktionsspezifischen Nervennetz signalisiert.

Wie ein Neuron auf die Aktivität an einer ihrer Kontaktstellen antwortet, hängt von deren Ausstattung mit regulierbaren Ionenkanälen ab, von denen es unterschiedliche Familien mit unterschiedlichen Steuerungsmöglichkeiten gibt. Synapsen bauen sich aus diesem Angebot eine persönliche "Kanalkennkarte" zusammen, die ihre Antwort auf einlaufende Informationen festlegt. Eine der großen Leistungen der Neurobiologie ist die Entdeckung, dass diese Kanalkennkarte mit dem Abschluss der Gehirnentwicklung nicht ein für alle mal festgelegt ist, sondern sich mit länger anhaltenden Erregungszuständen, emotionalen Stimmungen und durch Erfahrungen über zwei Mechanismen verändern können

1) Neuropeptide, so genannte Modulatoren, können die Steuerung von Ionenkanälen verändern oder den Einbau neuer Kanäle durch Genaktivierung induzieren. Das Neuropeptid Y z.B. sensitiviert bestimmte Neurone, die Lust auf Süßes, Kohlehydrate, wecken. Zuviel Neuropeptid Y führt zu Fettleibigkeit. Auch Hormone gehören zu den Modulatoren der Hirnaktivität. Östradiol, bekannt als Sexualhormon, verstärkt bei bestimmten Neuronen des Hippocampus nicht nur bestehende Synapsen, sondern erhöht innerhalb von Stunden deren Anzahl um 50 Prozent. Der Hippocampus spielt eine Schlüsselrolle bei der Gedächtnisbildung, die durch die Wirkung des Östradiols an den Synapsen begünstigt wird. Umgekehrt erschwerren Stresshormone, die Corticosteroide, die Gedächtnisbildung, weil sie im Hippocampus die Neurogenese verlangsamen. Da im Alter generell der Corticosteroid-Spiegel ansteigt, haben wir älteren Herrschaften immer mehr Probleme, uns an das zu erinnern, was wir gestern oder vorgestern versprochen haben.

2) Synapsen können auch durch die gleichzeitige Erregung verschiedener Eingäng so verstärkt werden, dass bei nachfolgenden Erregungen die Aktivierung einer Synapse alleine ausreicht, um das Neuron zu aktivieren. Lernen und Gedächtnis stehen und fallen mit solchen Synapsen-Veränderungen. Sie sind das Substrat mit denen das Gehirn Erfahrungen sammelt, speichert und Entscheidungen trifft.

Auch die Gene spielen in der Gehirnfunktion eine entscheidende Rolle. Die Neurowissenschaften sind gerade dabei, die Technik zu entwickeln, wie man bestimmte Gene gezielt ein- und ausschalten kann. Mit dieser Methode beginnt ein neues Zeitalter der Hirnforschung, das uns zeigen wird, wie viele und welche unserer Hirnleistungen ererbt und welche durch Erfahrung geformt und verändert werden können. Aus dem scheinbar fest verdrahteten Gehirn der 60er und 70er Jahre ist in den 80er und 90er Jahren ein flexibles und dynamisches Verschaltungsnetzwerk geworden, dessen Knotenpunkte, die Synapsen, durch aktuelle Erregungsaktivität oder durch erfahrungsgesteuerte Genaktivierung bis ins hohe Alter beeinflusst werden können.

Unter allen Lebewesen hat es nur der Mensch geschafft, die Welt sich untertan zu machen und nach seinem Willen umzuformen. Was hebt das menschliche Gehirn, das die schöne neue Welt geschaffen hat, über die anderen hinaus? Bei den Säugern taucht aus den Tiefen des Vorderhirns ein neuer Gehirnteil auf, der sogenannte Neocortex. Dort finden wir die höheren Leistungen der Kognition und des Handelns konzentriert. Dieser Neocortex vergrößert sich im Laufe der Evolution und explodiert förmlich bei den Primaten. Die Cortexfläche einer Ratte hat die Größe einer Briefmarke, die eines Affen einer Postkarte, eines Menschenaffen eiens DIN-A-4-Blattes, und die des Menschen von vier DIN-A-4-Blättern.

Biologisch betrachtet ist der Mensch ein Neocortex-Tier. Die Geburt des Homo sapiens durch die Vervierfachung der Cortexfläche geschah bezeichnenderweise während der letzten Eiszeit vor 2,5 Millionen Jahren, als die Interaktion zwischen harscher, lebensfeindlicher Umwelt und überlebenshungrigem Gehirn alle schlummernden Potentiale weckte und nur denen eine Überlebenschance einräumte, die sich auf vorausplanendes Handeln, Vorratshaltung, gemeinschaftliche Aktivitäten usf. verstanden. Den Unterschied zwischen Hominiden und Homo sapiens verdanken wir der Eiszeit, und unser Gehirn spiegelt jene Existenzbedingungen wieder. Nicht das Paradies erzeugt Fortschritt, sondern die Hölle, oder wenigstens das Fegefeuer.

Immerhin erreichen Schimpansen bei der Kognition und den intellektuellen Leistungen das Niveau von 3- bis 4-jährigen Kindern. Welcher Qualitätssprung lässt dann den Schimpansen in der Tierwelt zurück? Es ist die Sprache, genauer das Sprachgehirn. Über dem linken Ohr liegt ein Cortexgebiet, das den Schimpansen in dieser Form fehlt. Die Broca-Area ist für die Motorik der Wortbildung und deren grammatikalischen Verknüpfung zu Sätzen zuständig, und Wernickes Area enthält das Wortlexikon, mit dem wir die Welt ergreifen und mit dem wir die an der Realität gespiegelten internen, vom Gehirn erzeugten Welten unserer Phantasie und Kreativität auf den Begriff bringen. Affen können ebenfalls ein Begriffslexikon anlegen, große Schwierigkeiten haben sie jedoch mit der Verknüpfung solcher Begriffe nach den Regeln einer Grammatik.

Die Unfähigkeit zur Verknüpfung, zur Kettenbildung, hindert sie schon an der Wortbildung: Wie wir verfügen Schimpansen über etwa drei Dutzend verschiedene Lautäußerungen. Während wir diese Phoneme zu Wörtern verketten können, sind Affen zu dieser Verknüpfung nicht fähig. Es ist also fehlende kompositorische Feinsteuerung der Motorik und nicht mangelhafte Logik, Abstraktion oder Wahrnehmung, die Affen sprachlos macht. Der Unterschied zwischen Affen und Mensch ist neuronaler Natur und winzig, hat aber gigantische Folgen. Mit der Ausdifferenzierung der motorischen Programme zur Wort- und Satzbildung aus Phonemschlangen wird aus einem Affen ein Mensch. Sprache ermöglicht es dem individuellen Menschengehirn, interne, aktivierte Nervennetze, also Ideen und bloß vorgestellte Wahrnehmungen an die brüderlichen und schwesterlichen Gehirne zu exportieren. Durch Sprache wird die Hirnleistung sozialisiert, zum gemeinsamen Besitz der Sozietät.

Mit den Computern und deren Vernetzung treten wir in eine neue Phase der Menschheit ein. Hat das menschliche Gehirn durch seine Sprachfähigkeit und seine Feinmotorik bisher Hirnleistungen sozialisiert, externalisiert mit den Computern das Gehirn seine Arbeits- und Funktionsmechanismen. noch sind diese Maschinen von der ungeheuren Vernetzungskapazität und der dynamischen Assoziationskraft des Gehirns weit entfernt, aber jedes Jahr erweitern sich die Möglichkeiten unserer Computer, und das Internet hat sich längst zu einer Art integralem Menschheitsgehirn entwickelt. Als Biologe sehe ich in der Entstehung und Weiterentwicklung des Internets eine Externalisierung des Gehirns. Das globale Computernetz ist das logische Endziel der Evolution, die sich im menschlichen Gehirn materialisiert hat. So wie die organismische Evolution sich im Menschen selbst verwirklicht hat, so wird das von menschlichen Hirnen geschaffene globale Computernetz eine Selbstverwirklichung des menschlichen Gehirns werden, ein Supergehirn der Menschheit. Schon heute, in seinen Anfängen, revolutioniert es gesellschaftliches Leben, und schon frohlocken Computer-Gurus, dass mit dem Internet herkömmliche Staatshierarchie obsolet werde, weil es für den Internet-Beteiligten kein unzugängliches Herrschaftswissen mehr gäbe. Demokratisierung von Information ist ein Wesensmerkmal des Internets.

Wer aber steuert dieses Superhirn der Menschheit, wer gibt ihm Ziele vor? Niemand, sagen die Computerexperten. Das System werde sich selbst nach seinen eigenen, immanenten Regeln optimieren und die Menschheit lenken und führen. Sie verweisen dabei auf das Vorbild der großen Sozialstaaten im Tierreich, z.B. bei Ameisen. Jede einzelne Ameise erfüllt dort ihre spezifische Aufgabe ohne ihren Anteil am Ganzen und das Gesamtsystem zu kennen, genauso wie ein Neuron in unserem Gehirn. Es gibt auch keine "Königin" im Wortsinne, sie ist nur Reproduktionsmaschine und dirigiert in keiner Weise diese hoch komplexe Kooperationsgesellschaft, wie auch im Gehirn bislang vergeblich nach einer solchen Königsinstanz gesucht wurde. Wir Biologen bezeichnen solche Tierstaaten ohne personalisierte Entscheidungshierarchie als einen Superorganismus, dessen Koordinationsmechanismen, Informationsflüsse und Zielfestlegungen zu verstehen, zu den letzten großen Geheimnissen und Forschungsaufgaben der Biologie gehören. Es wird dies eine große Herausforderung für die Neurobiologie und Neuroinformatik sein, denn in den Ameisenstaaten verfügen wir über ein Tiermodell für externalisierte Gehirne, für ein virtuelles Menschheitsgehirn dessen Anfänge wir als Internet miterleben.

Freilich, einen fundamentalen Unterschied zwischen Ameisenstaat und Internet gibt es dann doch: das ultimate Ziel der Gesellschaftsorganisation der Ameisen ist durch die natürliche Auslese festgelegt: Ziel ist das Überleben und die Reproduktionsmaximierung. Was aber Werden die Ziele einer mit einem Supergehirn vernetzten Menschheit sein? Das Internet wird Mechanismen des Gehirns nachahmen, vielleicht sogar verbessern können, aber formuliert sich dieses Informationsnetz durch seine Struktur seine eigenen immanenten Ziele? Im Umkehrschluss: wäre dann die Tatsache, dass jede Menschengesellschaft eine Ethik und einen transzendentalen Überbau besitzt, der Ausfluss unserer Hirnstruktur? Wie entstehen unsere Zielvorstellungen in unserem Gehirn? Wir wissen es nicht, noch nicht, und wenn wir es wissen werden in einigen Jahrzehnten, bleibt es letztlich individueller Entscheidung überlassen, worin wir den Sinn des Lebens sehen. Genau diese Freiheit macht das biologische Abenteuer Mensch aus: er ist die Fleisch gewordene Evolution, ihre Selbstverwirklichung, aber gleichzeitig ihr eigenes Risiko.

In etwa zwei Jahren wird die vollständige Genkarte (ca. 140*000 Gene) des Menschen auf dem Tisch liegen. Für das Verständnis des Menschen wird diese herkulische Arbeit von weit geringerer Bedeutung sein als die Entschlüsselung der Denk-Algorithmen, der Gedächtnisbildung, der Assoziationsmechanismen, der zeitlich komplex strukturierten Handlungsprogramme. Die Neurobiologie wird die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts sein und die Neuroinformatik wird deren Ergebnisse in eine Computer-Revolution unserer Arbeits- und Alltagswelt umsetzen. Diese Zukunft hat mit dem Internet und mit rund um den Globus autonom miteinander kommunizierenden Robotern schon begonnen. Nur wenn wir das Gehirn verstanden haben, werden wir die Natur des Menschen begreifen.

Das wusste schon Hippokrates: "Die Menschen müssen wissen, dass uns die Lüste und Freuden, und Lachen und Scherzen aus keine anderen Ursache als vom Gehirn ihren Ursprung nehmen, und ebenso Betrübnis und Ärger und Missstimmung und Jammer". Wären noch zu ergänzen: Wissen und Können, Mitmenschlichkeit und Destruktion.Gerhard Neuweiler (64) ist Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er gehört ferner der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) in Halle/Saale an und ist Ehrendoktor der Technischen Universität München. 1993 war er für eine Amtsperiode Vorsitzender des Wissenschaftsrats. In dieser Zeit war er maßgeblich daran beteiligt, die Institute der DRR-Akademie zu evaluieren. © 1999

Gerhard Neuweiler

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