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Gesundheit: Die Formel der Wirklichkeit

Von Bas Kast D as Experiment hat noch nicht angefangen, und schon muss Daniel gähnen. Der Säugling, gelber Sabberlatz, gelber Schnuller, sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, blickt in den Raum.

Von Bas Kast

D as Experiment hat noch nicht angefangen, und schon muss Daniel gähnen. Der Säugling, gelber Sabberlatz, gelber Schnuller, sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, blickt in den Raum. Die Farben: bunt. Das Spielzeug, verstreut auf dem Boden: reichlich. So weit, so gut, aber was soll dieses Riesenei, da, mitten im Zimmer? Zwei junge Frauen, die hektisch hin- und herlaufen. „Es kann losgehen“, sagt die eine. Daniel starrt auf das Riesenei, das einem Frühstücksei nach dem Frühstück gleicht, geköpft, gekippt, ausgelöffelt. „Kommen Sie?“, sagt die andere Frau. Die Mutter setzt Daniel vor die Rieseneierschale, und er guckt hinein; innendrin befindet sich ein Monitor.

Die jungen Frauen, Assistentinnen im Baby-Lab, huschen hinters Ei, wo sich ihre Messgeräte verstecken: ein Computer, ein Videogerät, ein Schwarz-Weiß-Fernseher. Die eine Frau sieht durch ein winziges Guckloch, das man in die Eierschale gestochen hat, und beobachtet Daniel. Die andere verfolgt die Blicke des acht Monate alten Babys auf dem Fernsehschirm; Daniel studiert gerade seine Füße.

Zwei Assistentinnen, ein Riesenei und ein Baby – und das soll uns Antworten geben auf die Frage, wie wir die Welt wahrnehmen? Wie die Welt in den Kopf kommt? Wir befinden uns auf dem Gelände der Max-Planck- Gesellschaft in Tübingen. Die Forschungslabors hier gehören zu den renommiertesten der Welt. Schräg gegenüber dem Baby-Lab ist auch das Büro der bisher einzigen deutschen Nobelpreisträgerin, der Frau der Taufliegen: der Genetikerin Christiane Nüsslein-Volhard.

Der Versuch fängt an. Auf dem Monitor in der Eierschale erscheinen nacheinander drei Gesichter, zuerst ein Kindergesicht, dann das Gesicht eines Erwachsenen – beide so lange, bis Daniel die Gesichter satt hat und seine Füße wieder für spannender hält. Nun schlägt die Stunde des dritten Gesichts, das eine Mischung aus den beiden vorhergehenden Gesichtern ist, Beispiel: das Erwachsenengesicht mit dem Mund des Kindes. Die Assistentinnen, die Daniel beim Beobachten beobachten, interessieren sich nur für eins: Wie lange starrt der kleine Junge auf dieses letzte Gesicht?

Die Türen zu den Beton-Bauten auf dem Max-Planck-Gelände sind elektronisch abgeriegelt – manche „Spielsachen“ hier gehen in die Millionen: Virtual-Reality-Anlagen, so groß wie ein Kino, Bewegungsplattformen, die wie Flugsimulatoren aussehen.

Dort, wo die Labortüren lila angemalt sind, ist Bülthoffs Wirkstätte. Bülthoff? Heinrich Bülthoff, Biologe, 51, Direktor am Max- Planck-Institut für biologische Kybernetik. Schon mit 25 Jahren entdeckt er eine Illusion, die nicht nur der Mensch, sondern auch die Fliege sieht. Seitdem verfolgt den Forscher eine Frage: Wie wahr ist das, was wir wahrnehmen? Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Das Büro des Direktors am frühen Morgen. Die Suche nach einer Antwort kann beginnen. Bülthoff, weißes Hemd, braunes Haar, Brille, er nippt an einer Kaffeetasse, er blickt aus dem Fenster, auf seinen Bungalow, der fast fließend ins Büro übergeht, Distanz zwischen Privatleben und Wissenschaft: 42 Schritte.

Wahrnehmung. Wirklichkeit. Vermutlich ist es naiv, die typische Frage eines blutigen Laien, aber: Wo liegt da überhaupt das Problem? Dass wir die Welt da draußen sehen, ist das nicht selbstverständlich? Lohnt es sich eigentlich, dafür morgens früh aufzustehen, um sich bis spät abends, ja nicht selten bis um Mitternacht den Kopf zu zerbrechen? Bülthoff lächelt. „Sie glauben, wenn Sie morgens aufwachen, ist die Welt da, einfach so, es gibt nichts, das Sie dafür tun müssen“, sagt er. „Aber diese Vorstellung ist falsch.“ Der Forscher nimmt ein Stück weißer Kreide und geht zur Tür.

Die lila Bürotüren hier im Institut haben eine praktische Eigenschaft: Von innen sind es Tafeln, die meisten vollgekritzelt mit mehr oder weniger geistreichen Botschaften („face recognition . . .“, „Zoe freut sich auf die Ferien . . .“). Bülthoff hat sich neben die Tür zu seinem Sekretariat gestellt, setzt die Kreide an die Tafel und schreibt:

P (O|R) ~ P (R|O) · P (O)

„Klasse nicht?“, sagt der Forscher, die Kreide in der Hand, die Hand am Mund, er starrt auf die Formel. „Das Theorem von Thomas Bayes, einem genialen Mathematiker aus dem 18. Jahrhundert.“ Kurzes Schmunzeln. „Sie wollen wissen, wie wir die Welt wahrnehmen? Die Antwort sehen Sie vor sich. Sie liegt in dieser Formel.“

Eine Formel für die Wirklichkeit! Wer hätte das gedacht . . . Na gut, aber wie funktioniert sie, die Formel? „Haben Sie nicht einen Termin mit den Kolleginnen vom Baby- Lab?“, fragt Bülthoff. Der Forscher grinst. „Die Erklärungen folgen. Am Ende des Tages haben Sie die Formel verstanden. Versprochen.“ Er greift zur Kaffeekanne. „Auch einen Kaffee?“ Es ist genau 8 Uhr 56.

Daniel, er lächelt, er strampelt vor Begeisterung: Der Versuch ist zu Ende, die Baby- Lab-Assistentinnen haben dem Jungen eine knallgrüne Urkunde in die Hand gedrückt, dankesehr, bittesehr, einen schönen Tag und nochmals vielen Dank! Daniel und seine Mutter verabschieden sich.

„Wir untersuchen, wie Babys Gesichter sehen“, sagt Nicola Zauner, Psychologin, blondes Haar, blaues Shirt, eine Bluejeans mit Schmetterlingen drauf. Zauner und ihre Chefin Gudrun Schwarzer erklären das Experiment mit Daniel: Schon als Babys gucken wir länger auf Dinge, die wir noch nie gesehen haben, als auf Sachen, die wir schon kennen. Deshalb die Frage, wie lange Daniel auf das Mischgesicht starrt – ist das ein neuer Reiz für ihn oder nicht?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Daniel ist mit seinen acht Monaten bereits in der Lage, Gesichter als Ganzes wahrzunehmen, dann ist das Mischgesicht, wie für uns Erwachsene, ein neuer Reiz und wert, intensiv studiert zu werden. Schließlich hat der Junge das Gesicht in dieser Zusammensetzung nie zuvor gesehen. Es könnte aber auch sein, dass Daniel Gesichter nicht in ihrer Ganzheit sieht, sondern immer nur als Ansammlung von Einzelteilen, Nase, Augen, Mund . . . Da das dritte Gesicht eine Mischung ist aus Teilen, die der Junge alle schon gesehen hat, wäre das Gesicht in diesem Fall nichts Neues, der Reiz wäre reizlos, Daniel würde sich schon bald wieder seinen Füßen widmen.

Zauner und Schwarzer haben die Daten von 275 Babys ausgewertet – und die zeigen eine aufschlussreiche Entwicklung: Im Alter von vier Monaten nimmt ein Baby ein Gesicht noch nicht als Ganzes wahr. Es sieht nur Einzelteile, Auge, Mund, kein Gesicht. Egal, welches Gesichtsteil man austauscht, das Mischgesicht ist für sie nichts Neues.

Das Gleiche trifft auf Babys im Alter von acht Monaten zu, mit einer Ausnahme: Tauschten die Forscherinnen den Mund aus, guckten die Babys plötzlich länger auf das Mischgesicht. Nur dann, wenn man den Mund austauscht, wird das Gesicht für die älteren Babys zu einem neuen Reiz. „Offenbar wird der Mund als erstes in das Gesicht als Ganzes integriert“, sagt Baby-Lab-Chefin Schwarzer.

Aber warum? Warum der Mund? Warum nicht die Augen oder die Nase? „Vielleicht weil der Mund das im Gesicht ist, was sich am meisten bewegt“, sagt Schwarzer. „Saugen, sprechen, lächeln – alles Dinge, die wir mit dem Mund tun. Und die für ein Baby enorm wichtig sind.“

P (O|R) . . . wie war das doch gleich?

Bülthoff, er sitzt an seinem Schreibtisch, er starrt auf sein Notebook, neben dem Notebook auf dem Tisch: das Modell eines Hirns. Eine Frage, Herr Bülthoff: Was sagen uns die Befunde aus dem Baby-Lab darüber, wie wir die Welt wahrnehmen? Der Forscher klappt sein Notebook zu. „Sie zeigen, dass wir nicht mit einem fertigen Wahrnehmungsapparat zur Welt kommen“, sagt er und nimmt das Hirn in die Hand. „Nicht nur das Gehen und das Sprechen müssen Sie lernen, sondern auch das Sehen.“ Beispiel Gesichter. Als Babys sehen wir nur die Teile eines Gesichts. Im Kopf herrscht eine strenge Arbeitsteilung. Manche Hirnzellen werden nur aktiviert, wenn sie Augen registrieren, sie sehen Augen, aber kein Gesicht. Andere „feuern“ beim Anblick eines Mundes, wieder andere kümmern sich um das Kinn. „Aber wenn man ein Kinn sieht, dann sieht man meist auch einen Mund und Augen und eine Stirn“, sagt Bülthoff. Die Zellverbände für die verschiedenen Gesichtsteile feuern also immer zur gleichen Zeit. „Diese gleichzeitige Aktivität ist das zentrale Prinzip des Lernens: Es führt dazu, dass sich die einzelnen Zellverbände zu einem großen Verband zusammenschließen“, sagt Bülthoff. „Und Sie fangen allmählich an, ein Gesicht als Ganzes zu sehen.“ Die Welt im Kopf, das Puzzle der Wirklichkeit, setzt sich Stück für Stück zusammen.

Sehen lernen, das ist wie Vokabeln lernen. „Der Unterschied ist nur, dass Sie sich an das Vokabelbüffeln noch gut erinnern können“, sagt Bülthoff. „Das Sehen aber haben Sie so früh im Leben gelernt, dass Sie davon nichts mehr wissen.“ Die Welt im Kopf entsteht, ohne dass wir es merken.

Blick auf die Uhr: schon halb drei vorbei! P (O|R) . . . Es wäre schön, hätte man um diese Uhrzeit wenigstens einen Teil der Formel verstanden, vielleicht nur den Anfang. Aber sogar davon kann nicht die Rede sein. Ist es deplatziert, wenn man sich an dieser Stelle fragt, was die Wahrnehmung eines Gesichts überhaupt mit der Formel zu tun hat? Bülthoff läuft zur Tür, wo bereits zwei Gäste auf ihn warten, ein israelischer Mathematiker, eine Dame aus Dublin. „Frau Knappmeyer wird Ihnen die Formel erklären“, sagt der Forscher und verschwindet, das Notebook unter den Arm geklemmt. Auf der Tafel dämmert die Formel vor sich hin wie ein Kunstwerk, das seiner Zeit voraus ist.

Drei Türen von Bülthoffs Büro entfernt, das Zimmer von Barbara Knappmeyer, 30, eine schöne, unwahrscheinlich intelligente Biologin und Mathematikerin, an der Wand in ihrem Zimmer: sechs verschiedene Bilder der Mona Lisa, Mona Lisa als Mann, Mona Lisa einmal hübsch, einmal hässlich, Mona Lisa von der Seite . . .

Knappmeyer, hellbraunes Haar, ganz in Khakifarben („schön“ – ob auch das nur eine Sache der Wahrnehmung ist?), sie hält eine weiße Gesichtsmaske in der Hand, „beobachten Sie mal, was passiert, wenn man die Maske zur Innenseite dreht“. Die Frau dreht die Maske so, dass sich die Gesichtsseite wegdreht und die Innenseite der Maske zum Vorschein kommt – und dann plötzlich: Die Innenseite, das „Hohlgesicht“, es stülpt sich nach außen, es ist, als würde das Hohlgesicht zum Gesicht werden! „Ihr Hirn hat zwar gelernt, Gesichter wahrzunehmen“, sagt Knappmeyer. „Aber was passiert, wenn Sie etwas vor Augen haben, das Sie noch nie gesehen haben?“ An der Stelle, sagt die Forscherin, kommt die Formel ins Spiel:

P (TB|Husten) ~ P (Husten|TB) · P (TB)

P (Husten)? P (TB)? Was ist mit P (O|R)? Was ist mit Bayes, diesem genialen Mathematiker aus dem 18. Jahrhun . . . „Schon gut“, unterbricht Knappmeyer, „das hier ist Bayes.“ Sie lächelt. „Ich verstehe, dass Buchstaben und Wörter für Sie ganz wichtig sind. Aber hier geht es um Logik.“ Ach so. Sorry.

Knappmeyer („das wird jetzt etwas kompliziert, aber es lohnt sich!“), sie hat sich an ihre Tür-Tafel gestellt, die Maske in der linken, die Kreide in der rechten Hand. „Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines morgens mit einem Husten auf“, beginnt sie. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Tuberkulose haben?“

Wie geht ein Arzt bei seiner Diagnose vor? Er fragt sich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit P auf eine Tuberkulose ist, gegeben die Information Husten (der senkrechte Strich | heißt: „gegeben“): P (TB|Husten).

Die Diagnose wird von zwei Komponenten bestimmt: Einerseits muss der Arzt wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass man hustet, wenn man eine Tuberkulose hat. Das ist P (Husten|TB). Diese Wahrscheinlichkeit ist hoch: Wer eine Tuberkulose hat, muss immer husten. Volltreffer!, könnte man meinen, wir haben es also mit einer Tuberkulose zu tun . . .

„Nicht ganz“, sagt Knappmeyer. „Für die Diagnose denkt der Arzt nämlich auch daran, wie oft eine Tuberkulose vorkommt.“ Das ist P (TB), die Wahrscheinlichkeit auf eine Tuberkulose überhaupt. Und die ist ganz gering. Der Volltreffer erweist sich als Niete. „Wer eine Tuberkulose hat, hustet zwar immer“, sagt Knappmeyer. „Aber nicht jeder, der hustet, hat auch eine Tuberkulose.“ Nach dem gleichen Prinzip, sagt die Forscherin, geht unser Hirn vor:

P (O|R) ~ P (R|O) · P (O)

P (O|R), das ist unsere Wahrnehmung. „Nehmen wir an, ich bin das Gehirn“, sagt Knappmeyer. „Ich muss die Diagnose stellen, mit was für einem Objekt O ich es zu tun habe. Alles, was mir dazu zur Verfügung steht, ist die Information, die von meinen Augen kommt, das Reizmuster R auf der Netzhaut.“ Auch die Diagnose des Hirns wird von zwei Komponenten bestimmt. Von P (R|O): der Frage, wie gut das Reizmuster R zu einem Hohlgesicht O passt. Und von P (O): der Wahrscheinlichkeit auf Hohlgesichter überhaupt. „Das Reizmuster auf der Netzhaut passt zwar gut zu einem Hohlgesicht“, sagt Knappmeyer. Volltreffer!, könnte das Hirn meinen und ein Hohlgesicht sehen. „Aber die Wahrscheinlichkeit auf ein Hohlgesicht ist so gering, dass die Rechnung nicht aufgeht.“

Das Hirn streikt. Die Wahrnehmung des Hohlgesichts bleibt aus. „In seiner Verzweiflung fragt sich das Hirn, ob das Reizmuster nicht auch von etwas stammen könnte, das es kennt, von einem Gesicht“, sagt Knappmeyer. Das Reizmuster passt zwar nicht ganz zu einem üblichen Gesicht, P (R|O) ist klein. Aber die zweite Komponente, die unsere Wahrnehmung bestimmt, die Wahrscheinlichkeit auf Gesichter überhaupt, P (O), ist so hoch, dass die Rechnung trotzdem aufgeht. Die Folge: Wir sehen ein Gesicht, wo in Wahrheit ein Hohlgesicht ist. „Ein Hohlgesicht ist einfach zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein“, sagt Knappmeyer.

Unser Hirn verzichtet also freiwillig auf die Wahrheit, sobald ihm die Dinge zu unwahrscheinlich werden? Ist die Welt im Kopf etwa eine Sache der Wahrscheinlichkeit? Knappmeyer lächelt. „Genau so ist es.“

Die Welt im Kopf – egal, ob man eine Mathematikerin fragt und als Außenseiter nicht jedes Wort versteht, oder einen Biologen oder eine Psychologin, es scheint, als würde man immer auf eine Antwort stoßen: Die Welt im Kopf ist nicht wie die Welt da draußen. Das Hirn wurde nicht entwickelt, um die Welt so zu erkennen, wie sie ist, sondern damit wir uns im Kampf ums Dasein erfolgreich darin durchschlagen können.

18 Uhr 17. Bülthoff ist zurück von seiner Besprechung, er sitzt wieder vor seinem Notebook, „sehen Sie mal“, er tippt auf der Tastatur, und auf dem Bildschirm erscheinen verschiedene Bällchen. Die einen sind wie Kugeln, oben hell, unten dunkel, sie scheinen aus dem Bildschirm herauszuragen. Die anderen sind unten hell und oben dunkel und wirken wie Löcher, wie in den Bildschirm gedrückt.

Dann nimmt Bülthoff sein Notebook und dreht es auf den Kopf – und die Kugeln verwandeln sich plötzlich in Löcher und die Löcher in Kugeln. „Sie meinen, das Hirn verzichtet auf Wahrheit, aber was ist die Wahrheit, Kugel oder Loch?“ Beides, sagt Bülthoff, ist eine Illusion. Die Löcher und Kugeln entstehen erst im Kopf. „Wenn in dem Bildschirm wirklich Löcher sind, hab ich ein ernstes Problem“, sagt der Forscher und guckt auf sein Apple-Notebook. „Das Gerät war nicht billig.“

Nur warum wechseln die Bällchen ihre Identität, sobald man den Bildschirm umdreht? „Weil unser Hirn davon ausgeht, dass das Licht von oben kommt“, sagt Bülthoff. Unter dieser Annahme muss etwas Rundes, das oben hell und unten dunkel ist, eine Kugel sein. Wenn umgekehrt etwas Rundes unten hell und oben dunkel ist, dann ist es wahrscheinlich ein Loch. „Wieder sehen Sie etwas, das Sie gelernt haben“, sagt Bülthoff. „Und Sie haben nicht nur gelernt, dass es Gesichter und Kugeln und Löcher gibt. Sie haben auch gelernt, dass die Sonnenstrahlen auf unserem Planeten von oben kommen, und nicht etwa von unten aus dem Boden.“

19 Uhr 30. Abendessen im Bungalow der Bülthoffs. „Geht es Ihnen gut?“, fragt Isabelle Bülthoff, die Frau des Direktors, die ebenfalls die Wahrnehmung von Gesichtern untersucht. „Sie sehen etwas blass aus.“ Tochter Valentine, 16, sitzt bereits am gedeckten Tisch, eine Tortilla auf dem Teller, Guacamole auf der Tortilla, sie wartet, sie spricht über die Nash-Biographie („A Beautiful Mind“), die sie gerade liest. „Vielleicht sollten wir das Thema Mathematik lieber nicht anschneiden“, sagt Vater Bülthoff, und ganz gelingt es ihm nicht, das Lächeln auf seinen Lippen zu unterdrücken.

„Übrigens, John Nash“, Bülthoff spricht nun doch über das Mathe-Genie, das schizophren wurde, „ich frage mich, wie er die Maske gesehen hätte.“ Der Psychologe Hinderk Emrich von der Medizinischen Hochschule Hannover hat nämlich herausgefunden, dass Schizophrene die Innenseite einer Maske so sehen, wie sie ist: Sie sehen schlicht das Hohlgesicht. Der Grund, spekuliert Emrich, ist eine mangelnde Zensur im Kopf. Vielleicht zeichnet das Schizophrene aus: Nicht nur ihre Fantasien und Wahnvorstellungen werden von ihrem Hirn weniger streng boykottiert, sondern auch unwahrscheinliche Wahrnehmungen.

Kurz vor Mitternacht, Bülthoff („ich muss noch eine Konferenz vorbereiten“) sitzt wieder im Büro, am Computer, er tippt. Auch Knappmeyer ist noch da, wertet die Daten ihres letzten Experiments aus. Blick auf die Tafel. „Und“, sagt Knappmeyer, „haben Sie die Formel verstanden?“ Naja . . . „Keine Sorge!“, sagt die Frau. „Auch beim Baby setzt sich die Welt im Kopf ja erst allmählich zusammen.“

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