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Gesundheit: Die Metropole hat Hunger

Und stillt ihn außer Haus: Eine Geschichte des öffentlichen Mittagsmahls – und seiner Gegner

Von Dorothee Nolte

Oh die Stulle! Die Stulle bringt Verderben. Dick beschmiert mit Käse oder Wurst, oft aus importiertem Weizen statt aus heimischem Roggen hergestellt, stillt die Stulle ab 1880 den Mittagshunger der Arbeiter und erregt Argwohn bei den Ernährungswissenschaftlern. Sie sehen in ihr eine Zusammenballung von schädlichen Fetten und raten, doch lieber, wie zuvor üblich, eine warme Gemüse-Mahlzeit einzunehmen. Doch ihre Empfehlung verhallte ungehört, denn ein grundsätzliches Problem konnten sie nicht lösen: Wer sollte mittags kochen?

Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Mittagsmahl, das zuvor in aller Regel im trauten Heim eingenommen worden war, in den Großstädten zunehmend aus dem Haus heraus verlagert. Wie und warum das geschah und wie die Zeitgenossen darauf reagierten, das ist das Thema einer gut lesbaren Studie, die der junge amerikanische Historiker Keith Allen jetzt unter dem Titel „Hungrige Metropole" veröffentlicht hat. Die Gründe für den Wandel der Essgewohnheiten sind nicht schwer auszumachen: Immer mehr Frauen arbeiteten außer Hause, und Arbeitsort und Wohnort lagen für beide Geschlechter oft so weit auseinander, dass eine Heimfahrt in der Mittagszeit nicht möglich war.

In Volksküchen aß man gesittet

Statt dessen nahmen sich die Menschen belegte Brote mit an den Arbeitsplatz - Fabrik-Kantinen blieben bis in die dreißiger Jahre selten - , oder sie aßen in öffentlichen Speisestätten, die, wenn auch zögerlich, von ehrenamtlicher, staatlicher und kommunaler Seite eingerichtet wurden. Der jüdische Philanthrop Hermann Abraham etwa führte, gerührt vom Anblick hungriger Kinder, 1893 Essensausgaben für Schulkinder ein. Seine Mitarbeiter versorgten um 1910 täglich bis zu 8000 Kinder mit kostenlosen Mittagsmahlzeiten.

Es gab aber auch die „Volksküchen" der Lina Morgenstern, die 1866 während des Österreichisch-Preußischen Krieges begonnen hatte, die Not der Berliner Massen mit spendenfinanzierter Kost zu lindern. Bis zum Niedergang der Volksküchen um 1900 konnten Frauen und Männer, nach Geschlecht getrennt, in 15 Küchen preiswerte Suppen erhalten. Einen anderen Ansatz verfolgte die Industriellenwitwe Hedwig Heyl: Sie eröffnete ab 1885 Koch- und Haushaltungsschulen, in denen Arbeiterinnen unterrichtet wurden; das dabei produzierte Essen ging an arme Familien.

Wie kommt ein Amerikaner dazu, sich ausgerechnet mit der Geschichte des öffentlichen Mittagsmahls in Berlin zu beschäftigen? „Vielleicht weil ich aus dem Land des Fast Food komme ...", lacht Allen und korrigiert sich sofort: Eigentlich wollte er in seiner Dissertation den Wandel der Konsumgewohnheiten Ende des 19. Jahrhunderts erforschen. Aber dann fand er in den Quellen so viele Hinweise aufs Essen, dass er das Thema darauf eingrenzte.

„Es wurde als ernsthaftes soziales Problem betrachtet, dass viele Familien mittags nicht mehr gemeinsam aßen", erklärt er. „Die Kritiker sahen darin eine Aushöhlung der Familie und der Arbeitsteilung der Geschlechter. Ihrer Meinung nach sollte die Mutter zu Hause bleiben und kochen, das außerhäusliche Mahl galt ihnen als Bedrohung. Diese Haltung war in Deutschland stärker verbreitet als etwa in England oder Frankreich." Und zwar nicht nur unter Konservativen: Auch einige Protagonistinnen der Frauenbewegung priesen die hausfraulichen Pflichten der Frau. Es war kein Zufall, dass Hedwig Heyl mit ihren Kochschulen vor allem das Ziel verfolgte, Arbeiterfrauen zu besseren Köchinnen zu machen.

Nicht jeder mochte jedoch den moralischen Besserungsanspruch, mit dem die ehrenamtlich arbeitenden bürgerlichen Frauen auftraten. In den Volksküchen der Lina Morgenstern etwa durfte man keinen Alkohol trinken, sich nicht laut unterhalten oder Karten spielen, und man musste nach Beendigung der Mahlzeit sofort den Saal verlassen. Viele fühlten sich daher bei kommerziellen Anbietern wohler. Deren bekanntester war die Aschinger-Kette, die 1890 gegründet wurde und in ihren bald 29 Filialen schmackhafte Billigkost bot. Hier war das Essen sichtbar und üppig zur Schau gestellt, hier aßen reiche und arme Kunden Abermillionen von belegten Brötchen und Erbsensuppen von immergleicher Qualität, und über jedem Eingang hing das verlockende Schild „Bedienen Sie sich". Während des 1. Weltkrieges verpflegten sich auch viele Berliner in städtischen Großküchen und an den „Gulasch-Kanonen", die ab 1916 durch die Stadt rollten.

Allen, der seit Ende Mai wieder in Washington lebt, fühlt sich oft an sein Forschungsthema erinnert, wenn er in Deutschland Zeitung liest. Denn gibt es hier zu Lande nicht immer noch viel weniger Ganztagsbetreuung und weniger Schulspeisung als in den angelsächsischen Ländern oder Frankreich? Womöglich aus der selben Idealisierung der mittags kochenden Mutter heraus?

Von Aschinger ist nichts übrig

Die selbstverständliche Art, mit der Keith Allen geschlechtergeschichtliche Forschungen verarbeitet, ist bei männlichen Historikern in Deutschland nicht oft anzutreffen. „Man hat hier bisweilen den Eindruck, dass manche Männer sich von geschlechtergeschichtlichen Ansätzen bedroht fühlen und sie nicht ernst nehmen", sagt der 34-Jährige. Er zuckt die Achseln: Verstehen kann er das nicht. In den USA, wo er Geschichte und Volkswirtschaft studiert und mehrere Jahre im Washingtoner Holocaust-Museum gearbeitet hat, ist es normal, Impulse der Geschlechterforschung aufzunehmen.

Bei seinen Streifzügen durch Berlin hat Allen feststellen müssen, dass von den Aschinger-Filialen keine sichtbaren Zeugnisse übrig geblieben sind. Im Pestalozzi-Fröbel-Haus in der Schöneberger Karl-Schrader-Straße dagegen, wo Hedwig Heyl ab 1898 ihre Haushaltungsschule betrieb, „konnte ich mir richtig vorstellen, wie das damals war". Als Lokalhistoriker, der sich für die Geschichte einer einzelnen Straße begeistern kann, sieht er sich aber nicht. „In Zukunft werde ich mich nicht mehr mit Berlin beschäftigen." Schade eigentlich.

Keith Allen: Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin. Hamburg, Ergebnisse Verlag, 2002. 159 Seiten, 12 Euro.

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