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Gesundheit: Ein Hoch auf den Dreck (Leitartikel)

Nun laufen sie wieder. Seit Eröffnung der Pollensaison sind die Nasen der Heuschnupfengeplagten dem Dauerstress ausgesetzt.

Nun laufen sie wieder. Seit Eröffnung der Pollensaison sind die Nasen der Heuschnupfengeplagten dem Dauerstress ausgesetzt. Sie niesen, triefen oder sind verstopft. Noch schlimmer dran sind Asthmatiker, denen die Allergie gegen Gräser- oder Baumpollen in diesen Tagen die Luft zum Atmen nimmt. Wie überall auf der Welt nehmen auch in Deutschland die allergischen Erkrankungen - nicht nur der Heuschnupfen - immer mehr zu. Jeder vierte Bundesbürger ist Allergiker. Sein Immunsystem schlägt falschen Alarm und richtet sich gegen so harmlose Dinge wie Birkenpollen, Katzenhaare oder Milbenkot. Atemwegsexperten sehen in Allergien "eines der größten Gesundheitsprobleme des 21. Jahrhunderts".

Wie erklärt sich die rätselhafte Epidemie? Die Antwort kommt meist wie aus der Pistole geschossen. Die Umweltverschmutzung ist schuld! Aber so unstrittig es auch ist, dass Abgase und andere Schadstoffe Atemwegserkrankungen verschlimmern können (vom Rauchen ganz abgesehen) - die Vorstellung, dass Luftverschmutzung die wichtigste Ursache der Allergiezunahme ist, muss aus mehreren Gründen revidiert werden.

Zum einen werden Allergien durch Stoffe ausgelöst, die ganz unabhängig von Schadstoffen in unserer Umwelt vorkommen. Da bedarf es schon einiger geistiger Klimmzüge, um eine Birkenpollen-Allergie mit dem Straßenverkehr in Verbindung zu bringen. Zum anderen tragen Katalysator, Luftfilter und moderne Heizungsanlagen wesentlich dazu bei, unsere Luft wieder sauberer zu machen. Was auf den scheinbaren Widerspruch zwischen "besserer Luftqualität" und "mehr Allergien" hinausläuft.

Den stärksten Hinweis auf eine paradoxe Beziehung zwischen Schmutz und Allergie liefert eine vor zwei Jahren veröffentlichte Studie der Kinderärztin Erika von Mutius. Die Wissenschaftlerin untersuchte, wie häufig Asthma und allergische Erkrankungen bei Leipziger und Münchner Schulkindern waren und stellte fest, dass die Münchner fast vier mal so viel Heuschnupfen hatten wie die Leipziger Kinder, die Leipziger dagegen drei mal so häufig Bronchitis.

Die Botschaft ist klar. Die von Zweitaktergestank und Braunkohle-Abgasen geschwängerte Leipziger Luft begünstigte zwar, wie zu erwarten, Atemwegsinfektionen, aber beileibe nicht das Entstehen von Allergien. In dieses Bild passt, dass Länder wie Albanien und Rumänien - nicht gerade ökologische Musterknaben - bei der Häufigkeit von Asthma oder allergischem Ekzem zu den europäischen Schlusslichtern gehören. Jedenfalls mit diesen "Zivilisationsleiden" haben sie bislang wenig Probleme.

Es gibt noch weitere Hinweise darauf, dass ein bisschen Schmuddel Kindern nicht schadet und womöglich sogar eine spätere Allergiker-Karriere verbaut. Und in die gleiche Richtung weist, dass das Immunsystem der "weniger allergischen" ostdeutschen Kinder in Krippen und Kindergärten frühzeitig mit Infektionserregern konfrontiert wurde. "Ein wenig Krankheit kann ganz nützlich sein", sagen die Kinderärzte.

Dagegen scheint das westdeutsche, isoliert aufwachsende und vor Schadstoffen und Schmutz penibel bewahrte Einzelkind geradezu der ideale Allergie-Kandidat zu sein. Sein Immunsystem ist in der sterilen Umgebung gleichsam arbeitslos geworden und sucht sich nun einen harmlosen Pappkameraden als Gegner - Pollen, Milben, Tierhaare.

Es ist also unser "westlicher" Lebensstil, der Allergien zu begünstigen scheint. Sie sind eine Bürde der Industriegesellschaft, auch wenn die individuelle Veranlagung den Ausbruch noch einmal fördert: Sind beide Eltern Allergiker, ist auch das Kind in bis zu 70 Prozent der Fälle betroffen. Aber Allergie und Asthma müssen kein Schicksal sein.

Man kann zumindest versuchen, das Risiko zu senken, und dafür sind gerade die ersten Lebensmonate besonders wichtig. In dieser Zeit ist das Immunsystem noch nicht ausgereift und kann vor Irrwegen bewahrt werden. Kinder sollten mindestens in den ersten sechs Monaten gestillt und vor übertriebener Hygiene bewahrt werden. Auch Tabakrauch kann Allergien begünstigen, und mindestens in den ersten zehn Lebensjahren sollten anfällige Kinder kein Haustier bekommen.

Nicht immer ist es möglich, der Allergie aus dem Weg zu gehen - schließlich werden wegen Heuschnupfen keine Bäume gefällt. Aber es gibt mittlerweile wirksame Behandlungen und Therapieansätze. So sollen bestimmte Testsubstanzen genau jene körpereigenen Immunmoleküle blockieren, die den blinden Alarm im Immunsystem auslösen.

Offenbar reagiert unser Körper ganz ähnlich wie unsere Psyche: Wer sich aus Angst abkapselt, begibt sich erst recht in Gefahr. Spiel ruhig mit den Schmuddelkindern.

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