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Gesundheit: Ein Monat als Gaststudent in einem Krankenhaus ist eine geistige und körperliche Grenzerfahrung

"Vellore, Vellore!", ruft der Busschaffner hektisch und deutet abwechselnd auf die Straße und auf mich.

"Vellore, Vellore!", ruft der Busschaffner hektisch und deutet abwechselnd auf die Straße und auf mich. "Vellore, Vellore, C.M.C Hospital!" Neugierig richten sich die Blicke der anderen Fahrgäste auf mich, als ich mir meinen Rucksack aufschnalle und mich kreidebleich und mit wackeligen Beinen durch den engen Gang auf den Ausgang zubewege. 130 Kilometer Busfahrt von Chennai, besser bekannt als Madras, stecken mir in den Knochen, auf denen der Fahrer peinlich genau darauf achtete, keines der kratertiefen Schlaglöcher auszulassen, den Finger nie länger als zwei Sekunden von der Hupe zu nehmen und andere Fahrzeuge nur in unübersichtlichen Kurven zu überholen. Auf der dreistündigen Fahrt hatte ich schon mehrmals mit meinem Leben abgeschlossen.

Doch nun ist es geschafft. Ich springe auf die Straße, der Bus braust mit aufheulendem Motor davon und lässt mich in einer Wolke aus Sand und Dreck zurück. Als sich der Staub allmählich legt und den Blick auf ein weiß getünchtes Steingebäude freigibt, lese ich über dem Eingangstor in großen metallenen Buchstaben: "Christian Medical College and Hospital" - ich bin am Ziel.

Das C.M.C., wie das Krankenhaus auch kurz genannt wird, befindet sich in Vellore, einer 200 000 Einwohner zählenden Basarstadt des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu. Einen Monat lang soll hier nun mein zu Hause sein, will ich eine andere Kultur kennenlernen und mich eventuell irgendwo nützlich machen. Ein Freund erzählte mir vom C.M.C. Und obwohl ein Praktikum in einem Krankenhaus eine eher ungewöhnliche Aufgabe für einen Politologiestudenten ist, war ich von der Idee, mich dort zu engagieren, schnell begeistert. Indien stand ohnehin auf meiner Reisewunschliste ganz oben.

Die amerikanische Missionarin Ida Scudder gründete hier vor knapp 100 Jahren eine Krankenstation mit einem einzigen Bett. Bereits zwei Jahre darauf konnten 40 Patienten untergebracht werden, und das Krankenhaus wuchs kontinuierlich auf seine heutige Größe von 1800 Betten. Allmählich kamen auch weitere Einrichtungen hinzu. Eine psychologische Abteilung unterstützt Eltern geistig behinderter Kinder bei der Erziehung. Aber das C.M.C. verfügt heute auch über eine Leprastation und einen mobilen Krankendienst, der sich um ärmere Patienten in den umliegenden Dörfern kümmert. Inzwischen gilt das christliche Krankenhaus als eines der modernsten und hygienischsten in ganz Indien.

Doch bereits ein kurzer Rundgang über das Gelände zeigt, dass die Begriffe "modern" und "hygienisch" in Indien eine andere Bedeutung haben als in Westeuropa. An allen Ecken bröckelt der Putz von den Wänden, die dunkelgrünen Kittel der Chirurgen sind in Kokosnuss-Palmen und auf dem Dach zum Trocknen aufgehängt und vor den Gebäuden übernachten Patienten mit ihren Familien auf dem harten Steinfußboden, in der Hoffnung, am folgenden Tag nicht allzu lange auf den Arztbesuch warten zu müssen. Selbst die Kanülen der Spritzen werden nach Gebrauch nicht weggeschmissen, sondern lediglich desinfiziert - und selbst das ist in Indien keineswegs alltäglich. Daher empfehlen viele Reiseführer erkrankten Touristen, sich hier behandeln zu lassen, kann es doch woanders weitaus schlimmer kommen.

Ich erkranke nach ganzen drei Tagen. Eine Lebensmittelvergiftung macht sich mit hohem Fieber und mächtigem Durchfall bemerkbar und hält mich zunächst einmal auf dem Zimmer, das ich mir mit einem Physiotherapiestudenten aus Wales teile. Doch ich bin hier ja zum Glück in guten Händen, und ein paar Antibiotika bringen mich schnell wieder auf die Beine. Und während ich mir fest vornehme, die strengen Lebensmittelvorschriften, die allen Indienreisenden empfohlen werden, noch ein bisschen genauer einzuhalten, kann ich nun endlich aktiv werden.

Ich helfe, wo ich kann, doch viel zu arbeiten gibt es für mich nicht, im Gegensatz zu den Medizinstudenten. Während diese Patienten abhören, Spritzen verabreichen und Diagnosen stellen, muss ich mich mit kleineren Handlangerdiensten wie zum Beispiel Botengängen begnügen. Dafür habe ich jedoch mehr Zeit, Ärzten, Schwestern und anderen Mitarbeitern bei ihrer Arbeit über die Schultern zu schauen und ihre jeweiligen Aufgaben näher kennenzulernen.

In einem Entwicklungshilfeprojekt, das der Leitung des Krankenhauses untersteht, stellen Dorfbewohnerinnen Möbel, Teppiche und Weihnachtsbaumdekorationen aus Palmblättern her. Die Entschlossenheit, mit der sich die Projektleiter um ihre Aufgabe bemühen, ist bewundernswert. Wissen sie doch genau, dass ihre Arbeit in einem Land mit fast einer Milliarde Menschen weniger ist als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Beklemmung macht sich bei der Besichtigung der Leprastation Karigiri breit. Die Patienten gelten noch immer in großen Teilen der indischen Gesellschaft als Aussätzige und werden von Freunden und Familie verstoßen. Gerührt bin ich hingegen von der Gastfreundschaft von Patienten, zu denen die Krankenschwestern bei ihren Hausbesuchen erst nach einem kilometerweiten Marsch über Reisfelder und durch Bananenplantagen gelangen. Meisten besitzen sie nicht viel mehr als ihre Lehmhütte. Und dennoch dürfen wir erst nach einigen Tassen Tee, den wir in der tropischen Hitze zu uns nehmen, wieder gehen.

Das C.M.C. erfüllt neben diesen sozialen Hilfsprojekten und dem gewöhnlichen Krankenhausbetrieb allerdings noch eine weitere wichtige Aufgabe. Ida Scudder gründete 1942 das "Medical College" für Frauen. Selbst als eine der ersten Frauen 1899 am "Cornell Medical College" in den USA graduiert, erfüllte sie sich damit einen Lebenstraum. Heute sind immer noch die Hälfte der jährlich 60 Studienanfänger Frauen. Auch Medizinstudenten aus dem Ausland können hier für knapp einhundert Dollar im Monat ein Praktikum absolvieren. Und so begegne ich Studenten aus Australien, Großbritannien, Holland, Kanada, Malta und den USA sowie einer deutschen Studentin, die einen Teil ihrer Famulatur hier verbringt.

So wird es auch an den Abenden nie langweilig. Man veranstaltet Parties auf den Zimmern, geht essen, wenn einem die oft sehr ähnlichen Kantinengerichte zu eintönig werden, oder besucht das Kino. Ab und zu werden ein paar aktuelle Hollywoodproduktionen gezeigt. Besser ist es allerdings, einheimische Studenten kennenzulernen und sich einen indischen Film dolmetschen zu lassen. So vergehen die viereinhalb Wochen im C.M.C. viel zu schnell. Schon stehe ich mit meinem Gepäck wieder auf der Straße vor dem Krankenhaus und warte auf meinen Bus.

Leider sind sämtliche Schilder an der Haltestelle auf tamil geschrieben, so dass ich jedesmal, wenn ein Bus vorbeikommt, den Fahrer fragen muss, wohin er fährt. Beim dritten Mal habe ich Glück. "Chennai, Chennai!", rufen Fahrer und Schaffner. Als ich aus dem Fenster noch einmal zurückschaue, verschwindet das C.M.C. im aufgewirbelten Staub der Straße. Während meiner Zeit hier habe ich neue Eindrücke, viele Freunde und einen Berg Erfahrungen gewonnen. Nur eines habe ich ganz bestimmt verloren, falls ich heil in Chennai ankommen sollte: Angst vorm Busfahren.Praktikumsbewerbungen an: Christian Medical College & Hospital, Ida Scudder Road, Vellore - 632 004, Tamil Nadu, Indien. Lange Brieflaufzeiten sind einzuplanen, gegebenenfalls noch einen zweiten Brief losschicken. Ein vierwöchiger Aufenthalt kostet knapp 100 Dollar an "Studiengebühren". Doppelzimmer sind auf dem Krankenhausgelände für ungefähr fünf Mark pro Tag zu bekommen.

Für den Aufenthalt in Südindien sollten die Monate vor dem Monsun (April und Mai) gemieden werden, da die Temperaturen dann auf über 50 Grad Celsius steigen können. Wer auch die Regenzeit umgehen möchte, sollte ab Mitte August anreisen.

Dringend empfohlen werden Impfungen gegen Hepatitis A und B, Typhus sowie eine Malaria-Prophylaxe.

Jens Wegner

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