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Gesundheit: „Ein Streifzug über eine unbekannte Insel“

Herr Ketterle, was treibt Sie dazu, ein Feldbett im Labor aufzuschlagen? Wissen Sie, zum Forschen gehört auch eine physische Ausdauer.

Herr Ketterle, was treibt Sie dazu, ein Feldbett im Labor aufzuschlagen?

Wissen Sie, zum Forschen gehört auch eine physische Ausdauer. Die Tage, an denen es sich wirklich lohnt, dran zu bleiben, an denen man denkt, das muss ich jetzt unbedingt nutzen, diese Tage sind rar. Und dann kann es eben sein, dass man die letzte U-Bahn nicht mehr kriegt oder dass es schon so früh am Morgen ist, dass man schon ein paar Stunden später eine Vorlesung halten muss.

Unter den Experimentatoren scheint es viele Nachtarbeiter zu geben.

Das ist kein Zufall. Eine neue Maschine, eine komplexe und anfällige Apparatur, kriegt man erst nach vielen Stunden des Justierens und der Feinarbeit zum Laufen. Erst dann kommt man an einen Punkt, wo man endlich anfangen kann, Daten zu nehmen und einen neuen Einblick in die Natur zu gewinnen. Pionierleistungen vollbringt man mit einer neuen Maschine, kurz bevor man todmüde umfällt.

Im September 1995 haben Sie mit ihrer Apparatur einen neuartigen Materiezustand erzeugt: eine extrem kalte Wolke aus Atomen, die bei Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad Celsius dicht zusammenrücken und kondensieren. Wie schauen Sie heute auf die Stunden dieser Entdeckung zurück?

Ich habe manchmal das Gefühl, einer dieser alten Entdecker zu sein, die auf einer unbekannten Insel gelandet sind. Dort kann man die erste Blume pflücken, die einem neu erscheint, und sie in allen Einzelheiten sezieren. Man kann aber auch erst einmal einen Streifzug über die ganze Insel machen und schauen, was es da alles so gibt. Ich habe mit meiner Forschergruppe einen solchen Streifzug über die Insel gemacht. Kaum hat unsere Anlage funktioniert, da haben wir die neuartigen Kondensate in alle möglichen Situation gebracht und sie aus vielen verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Das war sehr aufregend. Es hatte Jahre gedauert, die Insel zu erreichen.

Waren Sie sich der vielen technischen Schwierigkeiten bewusst, als Sie Anfang der 90er Jahre mit den ersten Experimenten zu dieser Reise aufbrachen?

Ich war darauf gefasst, dass ich das Ziel mein ganzes Leben lang nicht erreichen würde - aber dass es mich ein Leben lang motivieren würde, gute Physik zu machen. Albert Einstein und Satyendra Bose sagten die Existenz des ultrakalten Atomgelees schon in den 20er Jahren voraus. Doch in den folgenden Jahrzehnten sollte es keinem Wissenschaftler gelingen, ein solches Bose-Einstein-Kondensat herzustellen. Ich habe mir nicht angemaßt zu denken, dass es mir anders gehen würde. Die Bose-Einstein-Kondensation war für mich ein sehr fernes Ziel. Das näher liegende Ziel war es, Materie herzustellen, die sehr kalt und sehr dicht ist, und dabei auf neue physikalische Prozesse zu stoßen: zum Beispiel, die Stöße von Atomen zu beobachten, die Bildung von Molekülen oder die optischen Eigenschaften der Materie.

Man kann leicht den Eindruck gewinnen, dass es gar nicht so schwierig war, die Nuss zu knacken, die Einstein der Nachwelt auf den Experimentierteller gelegt hatte. Anfang der 90er Jahre waren alle experimentellen Voraussetzungen dafür vorhanden. Es gab Laser, um die Atome zu kühlen, und magnetische Fallen, um sie zusammenzuhalten. Wo war dann das Problem?

Es war genauso, wie Sie sagen. Die wesentlichen Techniken waren bekannt. Aber die vorherrschende Meinung war, dass diese Teile nicht zusammenpassen würden. Und um sie zu vereinen, musste man auf jeden Fall eine Menge Tricks ausspielen.

Und das hat so viele Jahre gedauert?

Ja. Man brauchte Forscher, die dazu bereit waren, mehrere Jahre nichts anderes zu machen, als zu versuchen, diese Techniken zusammen zu bringen.

Aber in der Grundlagenforschung ist es nichts Besonderes, ein paar Jahre auf ein Ziel hinzuarbeiten. War es nicht doch ein ziemliches Risiko für einen jungen Forscher wie Sie?

Die Zeit, in der wir die Maschine gebaut haben, war die längste Zeit in meiner Karriere, in der ich keine wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht habe. Ich habe mich ganz auf ein Ziel konzentriert, alle Sachmittel, finanziellen Ressourcen und Mitarbeiter darauf angesetzt.

Andere Forschergruppen in Boulder, Houston und Stanford schlugen den selben Weg ein. Sie gerieten schnell in einen Wettlauf hinein.

Ja, eine Rivalität mit diesen Forscherteams war zweifellos da. Aber das war stimulierend. Ich habe mich insbesondere durch Diskussionen mit Eric Cornell aus Boulder immer wieder herausgefordert gefühlt.

Eric Cornell und Carl Wieman waren Ihnen schließlich um eine Nasenlänge voraus. Im Sommer 1995 kühlten sie Rubidium-Atome auf so niedrige Temperaturen, wie es sie wohl im ganzen Universum nicht noch einmal gab. Ihre Konkurrenten erzeugten das weltweit erste Bose-Einstein-Kondensat. Wie haben Sie diese Nachricht verdaut?

Als Wissenschaftler war ich begeistert zu hören, was sich da Neues auftat. Aber als Konkurrent war ich natürlich besorgt. Ich fragte mich: Wo stehen wir jetzt? Wir verwendeten eine andere Methode und andere Atome, nämlich Natrium. Vielleicht ging das alles mit Natrium-Atomen gar nicht, und wir würden den Anschluss verlieren. Es folgten bange Monate intensiver Arbeit.

Wo standen Sie zu jener Zeit mit Ihrem Experiment?

Um die Natrium-Atome sehr weit abzukühlen, brauchen wir ein sehr gutes Vakuum zur Isolation. Anfang ´95 plagten wir uns sehr viel mit der Vakuumapparatur herum. Über mehrere Wochen hinweg war die Maschine gar nicht in Betrieb.

Und dann?

Dann kam im September die große Erleichterung. Wir konnten auf Anhieb ein sehr viel größeres Bose-Einstein-Kondensat erzeugen als die Gruppe aus Boulder.

Sie haben es auch geschafft, Atome aus der kalten Gasblase zu extrahieren und auf Reisen zu schicken. War das der erste Schritt auf dem Weg zu einem künftigen Atomlaser?

Ja. Unsere Maschine macht mit Atomen genau das, was der optische Laser mit Licht schafft: Sie erzeugt eine Materiewelle, einen Strahl von Atomen. Bei der Erfindung des Lasers dachte niemand daran, dass man damit einmal CD-Player betreiben oder Augen operieren könnte.

Vor wenigen Monaten haben Sie zusammen mit Cornell und Wieman den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung des Bose-Einstein-Kondensats erhalten. Und nun scheinen die kalten Atome schon leichter handhabbar zu sein. Ihre Kollegen am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching haben kürzlich ein Bose-Einstein-Kondensat auf einem winzigen Mikrochip präpariert.

Die Forschung schreitet in großen Schritten voran. Ich bin manchmal erstaunt, wie schnell das alles geht. Wir sind bereits dabei, winzige Schaltkreise einzusetzen, um die Atome auf komplexe Weise zu manipulieren. Wir möchten auf diesem Weg Superflüssigkeiten und Naturkonstanten studieren.

Das hört sich so an, als würden Sie Ihr Feldbett noch öfter im Labor aufklappen.

Ich bin jemand, der immer wieder gerne etwas Neues anfängt. Aber in diesem jungen Forschungsgebiet steckt noch viel Musik drin. Und deshalb bleibe ich vorerst dabei.

Das Gespräch führte Thomas de Padova.

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