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Gesundheit: Einfälle gegen Anfälle

Die internationale Epilepsie-Forschung traf sich in Berlin: Jedem dritten Patienten kann heute noch nicht geholfen werden

„Epileptiker gibt es gar nicht – es gibt nur Leute, die mehr oder weniger oft einen Anfall haben“, sagt Dieter Janz, Doyen der deutschen Epilepsie-Forscher. Heute in der Regel weniger oft: Im Saal outeten sich sachkundige Diskussionsteilnehmer als Patienten – ein Dutzend aus der halben Million Betroffener in Deutschland –, die dank angemessener Behandlung seit Jahren und Jahrzehnten anfallsfrei sind.

Den Wissenschaftlern auf dem Podium, durchweg Preisträger der „Stiftung Michael“ (siehe Kasten), ging es beim Jubiläum der Epilepsie-Stiftung um die anderen. Denn etwa jedem dritten Anfallskranken kann heute noch nicht geholfen werden: nicht durch Verhaltensanpassung und auch nicht durch noch so individuell ausgewählte und dosierte antiepileptische Arzneimittel.

Wirklich heilbar ist die Epilepsie auch noch nicht. Also ist die Forschung gefragt. Die Schwierigkeit ist nur: Auch die Epilepsie (griechisch: Fallsucht) gibt es gar nicht. Jedenfalls sei sie „keine Krankheit im klassischen Sinne“, erklärte Christian Elger von der Bonner Uni-Klinik für Epileptologie.

Die Anfälle sind äußerst vielgestaltig. Zugrunde liegt ihnen eine Übererregbarkeit der Nervenzellen (Neuronen). Und die kann sehr viele Ursachen haben: von Störungen der Hirnentwicklung über Kopfverletzungen, Hirntumoren oder Stoffwechselstörungen bis zu genetischen Einflüssen. Die Mutation eines einzelnen Gens ist die große Ausnahme, bemerkte der Charité-Genetiker Thomas Sander. Laut „Epilepsie-Bericht `98“ können etwa 130 monogene Erbkrankheiten zu Anfällen führen. Zusammen macht das aber nur ein bis zwei Prozent aller Epilepsien aus. Alle anderen Epilepsien sind polygen, also durch mehrere Genveränderungen bedingt, oder exogen, haben also äußere Ursachen. „Für den Großteil der Patienten wird die genetische Epilepsie-Forschung keine Rolle spielen.“

Die molekulargenetischen Studien, von deren Ergebnissen Christian Elger einiges mitteilte, bringen aber einen wertvollen Erkenntnisgewinn: Es konnten drei verschiedene winzige Defekte im gleichen Gen identifiziert werden. Und jede dieser Mutationen führte zu einer anderen Ausprägung der Epilepsie. „Solche molekularen Untersuchungen sind Erbsenzählerei auf sehr hohem Niveau, wenn es nicht letztendlich zu Folgen für die Therapie kommt“, sagte Elgers Mitarbeiter H. Beck. Vor allem will man herausfinden, wie Antiepileptika wirken und warum sie bei bestimmten Patienten versagen.

Die Bonner Forscher betrachten die Epilepsie aber auch als Modell, an dem man die Funktion des Gehirns und ihre Störungen studieren kann, und zwar vom „Gen über das Molekül bis zur Person“, wie Elger formulierte. Zu Gedächtnis-Experimenten lassen sich Epilepsie-Patienten gern heranziehen. Geforscht wird aber auch an krankem Hirngewebe, das bei sehr genau gezielten Eingriffen Patienten mit anders nicht behandelbaren Anfällen entnommen wird.

Es ist gelungen, dieses anfallträchtige Hirngewebe, das sonst im Sondermüll landen würde, bis zu vier Wochen am Leben zu erhalten. Daran wird zum Beispiel der Untergang von Nervenzellen untersucht, der auch bei anderen Hirnleiden wie Alzheimer oder Schlaganfall beschleunigt vor sich geht. So lässt sich auch klären, ob bestimmte Substanzen die Zellalterung aufhalten können.

Über das vom Weißen Haus initiierte Forschungsprogramm der USA, das von öffentlichen und privaten Institutionen gemeinsam getragen wird, berichtete der New Yorker Neuropädiater Solomon L. Moshé, Präsident der amerikanischen Epilepsiegesellschaft. Ziel ist es, die Mechanismen der Krankheitsentstehung besser zu verstehen und neue Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln: vor allem für Kinder – die Hauptbetroffenen der Anfallsleiden – und für jene, bei denen die Medikamente keinen Effekt oder unvertretbare Nebenwirkungen haben.

Die Zusammenarbeit der Vertreter verschiedener medizinischer Fächer und die Kombination aller verfügbaren Methoden bieten der Forschung heute die Chance, die Epilepsie-Entstehung aufzuklären. Die Forschung dürfe sich aber keinesfalls allein hierauf konzentrieren, mahnte der Mailänder Neurologe Giuliano Avanzini, Präsident der Internationalen Liga gegen Epilepsie, die 86 nationale Gesellschaften vereint. Vielmehr sei es auch notwendig, Verbesserungen der Therapie, Rehabilitation und Integration der Patienten zu entwickeln.

Zwei Beispiele dafür nannte Moshé: Schwer Anfallskranke geraten leicht in die soziale Isolation. Eine anregende Umgebung aber kann am besten Folgeerscheinungen wie Depressionen verhüten. Auch müssten die Betroffenen besser darin geschult werden, auf drohende Anfälle nach Möglichkeit selbst Einfluss zu nehmen. Hierin sei man in Berlin schon recht weit, berichtete der Charité-Neurophysiologe Uwe Heinemann. „Es ist der Wunsch vieler Patienten, Anfälle beherrschen zu lernen. Damit man Herr seiner selbst werden kann.“

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