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Zeigen den Weg. Babylotsinnen Nurina Nazmy und Ellika Maass. Foto: Georg Moritz

© Georg Moritz

Gesundheit: Erste Hilfe für Familien

Alkohol, Armut, Drogen: Nicht jedes Kind hat die gleichen Startchancen ins Leben Ein neues Charité-Projekt will frühzeitig eingreifen. Babylotsinnen bieten Schwangeren eine Beratung an.

Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Berlin ist ein ziemlich großes Dorf. Eines, das für Kinder und Eltern viele Hilfen bietet. Wo sie zu finden sind, ist aber leider jungen Familien, die am ehesten Unterstützung gebrauchen könnten, oft am wenigsten klar. In der größten Geburtsklinik der Stadt, an den Standorten Virchow und Mitte der Charité, bieten ab jetzt zwei Mitarbeiterinnen jungen Eltern Beratung und Begleitung an. Nurina Nazmy ist Sozialarbeiterin, Ellika Maass Hebamme und Rehabilitationspädagogin. „Eltern mit Unterstützungsbedarf Wege zeigen, auf denen sie Hilfe bekommen können“, so umreißt Ellika Maass ihre neue Aufgabe. Der Leuchtturm auf der Visitenkarte der Lotsinnen erscheint da als treffendes Symbol: Es geht darum, dass niemand strandet.

Maas arbeitet seit einem Jahr als Hebamme im Kreißsaal der Charité-Geburtsklinik in Mitte und wird das auch weiter tun. Außerdem hat sie in der Klinik für Neugeborenenmedizin der Charité Erfahrung mit der Beratung von Eltern gesammelt, deren Babys viel zu früh oder mit Krankheiten auf die Welt kamen. Die neue Berufsbezeichnung der beiden heißt jedoch: Babylotsin. „Neben den medizinischen beschäftigen uns in den letzten Jahren zunehmend soziale und psychische Probleme“, sagt Wolfgang Henrich, Direktor der Kliniken für Geburtsmedizin der Charité, in der die Lotsinnen tätig werden. Die dreieinhalb Tage, die eine Wöchnerin nach der Geburt ihres Kindes im Schnitt in der Klinik verbringt, sind in seinen Augen ein idealer Zeitraum für Gespräche, in denen möglichst präzise und individuell ermittelt werden kann, ob und wo Bedarf an Hilfe besteht. „Es gibt kaum eine Zeit, in der Menschen dafür empfänglicher wären“, so Henrich, und ergänzt: „Eltern wollen immer gute Eltern sein, nur scheitern manche an den Rahmenbedingungen.“

Mit dem Projekt „Babylotse plus“ sollen diese Bedingungen nun verbessert werden. Vorbild ist ein Projekt, das seit 2007 in Hamburg läuft. Dort vermitteln fünf Gynäkologen schon in der Schwangerschaft Lotsen. Charité-Oberärztin Christine Klapp hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit den Hamburger Kollegen vernetzt. Die haben ihrerseits aus Düsseldorf gelernt, wo sich seit 2005 Geburtskliniken, Gesundheits- und Jugendämter eng vernetzt haben, um Familien mit besonderen Problemkonstellationen von Anfang an zu helfen.

Die Mannheimer Risiko-Kinder-Studie (MARS) hat gezeigt, warum manche Kinder in ihrem weiteren Leben von Krankheiten, Entwicklungsstörungen, aber auch von Misshandlungen besonders bedroht sind. Gründe sind auf Seiten der Eltern frühe, ungewollte Schwangerschaften, Beziehungsprobleme, Drogenkonsum, Armut, Arbeitslosigkeit, aber auch Eigenarten des Kindes, die es als besonders „schwierig“ oder gar „böse“ erscheinen lassen. Hat es ein eher sonniges Gemüt und schreit wenig, stellt das einen wichtigen Schutz dar. Glück im Unglück könnte man es nennen.

Das „Plus“ im Namen des jetzigen Charité-Projekts verweist darauf, dass das Angebot auch wissenschaftlich ausgewertet werden soll: Dabei geht es nicht nur darum, ob die Eltern das Angebot annehmen, sondern auch um die tatsächliche Wirkung früher Hilfe. „Wir untersuchen, ob die Kinder sich mit einem Jahr besser entwickelt haben als eine Kontrollgruppe vor Beginn des Projekts, ob die Eltern kompetenter sind und ob eine stabilere Bindung zwischen Eltern und Kind besteht“, so Klapp. Schon im nächsten Jahr soll die Zwischenauswertung vorliegen. „Das ist wichtig, damit eventuelle Lücken schnell identifiziert werden“, sagt Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die das Projekt unterstützt.

Und so wird „Babylotse plus“ ablaufen: An der Charité werden ab jetzt alle Schwangeren über die Möglichkeit informiert, sich von einer Babylotsin beraten zu lassen, wenn sie zum ersten Mal in eine der beiden Geburtskliniken kommen – ob das nun schon weit vor dem errechneten Geburtstermin ist oder direkt zur Entbindung. Bei allen wird zunächst ausführlich die gesundheitliche, aber auch die familiäre und soziale Situation erfasst. Wenn die Lotsinnen und das Team es aufgrund der verfügbaren Informationen für sinnvoll halten, besuchen Nurina Nazmy oder Ellika Maass die jungen Mütter auf der Entbindungsstation und bieten ihnen ein Beratungsgespräch an. Auf freiwilliger Basis. Und auch alle anderen Eltern können sich für ein Gespräch mit den Lotsinnen melden. Die können und wollen dabei nicht das ersetzen, was Pflegekräfte, Ärzte und Sozialdienst ohnehin schon leisten, sondern ihnen Verstärkung bieten und eng mit ihnen zusammenarbeiten.

Wie auch mit den Hebammen, die Mutter und Baby zu Hause besuchen. Normalerweise kümmern sie sich nur in den ersten zwei Monaten nach der Geburt um die Familie. Wenn alles schwieriger ist – weil das Kind als Frühchen auf die Welt gekommen ist, weil die Mutter psychische Probleme hat oder weil es Anzeichen für Gewalt oder Vernachlässigung gibt – können besonders ausgebildete Familienhebammen im ersten Lebensjahr des neuen Erdenbürgers tätig werden. Auf deren „unglaublich hohe Akzeptanz in den Familien“ baut Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Sie war zur Vorstellung des Babylotsen-Projekts der Charité vergangene Woche direkt von einer Kabinettssitzung gekommen, in der Bund und Länder eine „Bundesinitiative Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen“ vereinbart hatten. Der Bund will dieses Jahr 30 Millionen Euro aufwenden, um die Hilfsnetze für gefährdete Familien mit Babys und Kleinkindern enger zu knüpfen. Bis 2015 sollen es insgesamt 177 Millionen werden. „Die Babylotsen sind ein gutes Beispiel dafür, was die Vereinbarung bezweckt“, so Schröder. Und die Charité ist ihrer Ansicht nach ein geeigneter Ort, um frühe Hilfen anzubieten, mit denen die Startchancen benachteiligter Kinder verbessert werden. Denn sie war schon immer auch ein sozialer Ort. Früher seien hier, so die Ministerin, Pestkranke aufgenommen worden, später Arme und Soldaten kostenlos behandelt. „Heute gibt es anderes Leid.“

Wenn alles gut läuft, werden die Babylotsinnen in Zukunft solches Leid zumindest bei einigen Familien verhindern können. „Wir in der Klinik werden ein besseres Bauchgefühl haben, wenn wir Mutter und Kind entlassen“, hofft Ellika Maass.

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