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Gesundheit: „Es bedarf einer enormen Kraftanstrengung“

Deutschlands neuer Studentenberg: Ein Sonderprogramm von Bund und Ländern scheint überraschend möglich

Der neue Studentenberg (wir berichteten) wird alle 16 Bundesländer bis zum Jahr 2020 vor große Herausforderungen stellen: Die Gestaltung der Lehre für 450000 Studienanfänger und 2,7 Millionen Studenten in den schlimmsten Jahren um 2012 ist mit herkömmlichen Rezepten nicht zu meistern. So wie sich das die Kultusministerkonferenz vorstellt – auf die Wirkungen der Studienreform mit den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen zu vertrauen und eine bessere Ausnutzung der Kapazitäten zu fordern –, wird es nicht gehen.

Die stark ansteigenden Studierendenzahlen sind eine nationale Herausforderung. Nur mit einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern in einem Sonderprogramm zur Verbesserung der Lehre könnte man ihnen begegnen. Angesichts der sich abzeichnenden Einigung im Föderalismus-Streit schien ein Hochschulsonderprogramm allerdings in weite Ferne gerückt. Doch gestern brachte der NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers überraschend einen neuen Antrag ein. Danach sollen auch künftig Hochschulsonderprogramme des Bundes möglich sein, um die finanziellen Belastungen durch den Studentenberg gemeinsam mit den Ländern meistern zu können. Dabei findet Rüttgers die volle Unterstützung der designierten Bildungsministerin Annette Schavan.

Während das Hoffnungen auf eine vernünftige nationale Lösung weckt, weigert sich die Kultusministerkonferenz (KMK) noch immer, die dramatische Entwicklung auch als eine solche anzuerkennen. Stattdessen wehrt sie sich gegen den Vorwurf, sie habe die brisanten Zahlen ein halbes Jahr unter der Decke gehalten und sich geweigert, ihre Schätzungen frühzeitig der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zu übermitteln. Dass die KMK den Ernst der Lage runterspielen will, beweist allerdings auch ihr Umgang mit der Nachricht vom Studentenberg bei einer Pressekonferenz nach KMK-Sitzung am 14. Oktober: Sie behandelte das Thema unter „ferner liefen“ und redete die Bedeutung klein.

Unterdessen bereiten sich wenigstens zwei süddeutsche Länder auf den Ansturm vor. In Bayern und Baden-Württemberg hat die Politik schon im Mai begonnen, über eigene Sonderprogramme zur Bewältigung des neuen Studentenbergs nachzudenken. Bayern hat im Mai 2005 einen Hochschulpakt „Innovationsbündnis Hochschule 2008“ geschlossen. Darin wird auch auf die steigenden Studentenzahlen Bezug genommen. Wegen der bevorstehenden Belastung sind die Hochschulen von Haushaltssperren vorerst ausgenommen worden. Die Hochschulen erhalten sogar trotz des rigorosen Sparprogramms im Haushalt Priorität. Das bedeutet, wie der Sprecher von Wissenschaftsminister Thomas Goppel betonte, dass die anderen Ressorts für diese Priorität Opfer bringen müssen. In dem von Ministerpräsident Edmund Stoiber unterzeichneten Pakt werden zusätzliche Stellen für die Hochschulen angekündigt, „wenn die starken Jahrgänge an die Hochschulen wechseln.“

In Baden-Württemberg haben ebenfalls im Mai Ministerpräsident Günther Öttinger und Wissenschaftsminister Peter Frankenberg erste Reaktionen angekündigt: „Der zunehmende Bedarf von Wirtschaft und Gesellschaft an gut ausgebildeten Akademikern einerseits und eine bis 2020 hohe Nachfrage nach Studienanfängerplätzen“ sei „ nur durch eine breite Palette unterschiedlicher Maßnahmen“ zu bewältigen. Besonders um das Jahr 2012, wenn durch die Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre doppelte Abiturjahrgänge die Schulen verlassen, soll demnach „jeder Studieninteressent einen Studienplatz erhalten können“. Die mit dem achtjährigen Gymnasium erreichte Verkürzung der Ausbildungszeiten dürfe nicht dadurch gefährdet werden, dass die Abgänger keinen Studienplatz finden oder lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Ministerpräsident Öttinger betonte: „Dazu bedarf es einer enormen Kraftanstrengung. Es ist absehbar, dass die Hochschulen den doppelten Abiturjahrgang nicht mit Bordmitteln werden bewältigen können. Hier müssen wir frühzeitig ein befristetes Übergangsprogramm einplanen.“

Werden die Studiengebühren, die die CDU-regierten Länder ab 2007 einführen wollen, zur Finanzierung der neuen Überlast genutzt? Das ist die große Furcht der Hochschulrektorenkonferenz, weil dazu die Einnahmen nicht ausreichen werden. Die Rektoren wollen mit den Einnahmen aus den Studiengebühren lediglich die Lehre für die derzeitigen Studenten verbessern.

Die Hochschulrektorenkonferenz schätzt die Kosten für ein Sonderprogramm von Bund und Ländern auf 1,5 bis zwei Milliarden Euro jährlich. Sollten dagegen die Studiengebühren als Ersatz für ausgebliebene staatliche Mittel missbraucht werden, dann „wird die Hochschulrektorenkonferenz ihre Unterstützung zur Einführung von Studienbeiträgen zurückziehen“, drohte HRK-Präsident Peter Gaehtgens.

Wie sehr die Lehre in Deutschland unterfinanziert ist, zeigt ein Vergleich: Die Summe der öffentlichen und privaten Ausgaben im Hochschulbereich pro Student liegt bisher in Deutschland mit umgerechnet 10500 US-Dollar „um mehr als 50 Prozent unter den entsprechenden Ausgaben in den USA“, hat Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg öffentlich erklärt.

Wenn ab 2007 in Baden-Württemberg Studiengebühren eingeführt werden, sollen mit den erwarteten Einnahmen von 180 Millionen Euro „nicht mehr Studienplätze geschaffen werden“. Es geht Frankenberg nur um eine bessere Betreuung der jetzigen Studenten: durch zusätzliche Stellen für Tutoren oder studentische Hilfskräfte und eine bessere Ausstattung der Bibliotheken. Wenn es aber um die Bewältigung des neuen Studentenberges geht, möchte Frankenberg die Kapazität ganz anders erweitern: durch die Einführung „eines neuen Typs des Hochschullehrers, der sich nach dem Vorbild des englischen Lecturer vorwiegend auf die Lehre konzentriert“. Das Land will bis Mitte 2006 festlegen, wie der Studentenberg bewältigt werden kann.

Auch in Bayern und Nordrhein-Westfalen sind sich die Wissenschaftsminister der Tatsache bewusst, dass mit den Studiengebühren nur die Lehre für die jetzigen Studenten verbessert werden kann. In Bayern gibt man den Hochschulen die Entscheidung frei, ob sie pro Semester je nach Fach 100 bis 500 Euro Studiengebühren verlangen. Das macht die Höhe der Einnahmen völlig unkalkulierbar. Nordrhein-Westfalen geht wie Baden-Württemberg von Studiengebühren in Höhe von 500 Euro pro Semester aus und erhofft sich dadurch 320 Millionen Euro an Mehreinnahmen. Aber ein Teil dieses Geldes wird als Sicherung zurückbehalten, um einen Ausfallfonds zu finanzieren, falls Studenten nicht in der Lage sind, die Bankdarlehen zurückzuzahlen.

Nordrhein-Westfalen möchte für diesen Ausfallfonds 23 Prozent der Einnahmen aus den Studiengebühren reservieren, Baden-Württemberg und Bayern nur zehn Prozent. Da alle drei Länder viele Studenten aus sozialen Gründen von den Gebühren befreien wollen, wird klar, dass die Gebühren keine kalkulierbare Größe darstellen. Mit ihrer Hilfe kann man keine neuen Dauerstellen finanzieren, sondern nur Stellen für Hilfskräfte, die man von einem Semester zum anderen einstellen oder entlassen kann.

Uwe Schlicht

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