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Gesundheit: Es ist normal, verschieden zu sein

Was ist aus dem Ziel des gemeinsamen Lernens geworden? Ein Erziehungswissenschaftler plädiert für die Integration Behinderter und die individuelle Förderung aller Kinder

Gut ein Jahr nach Veröffentlichung der Pisa-Ergebnisse liegt eine Vielzahl von Analysen und Stellungnahmen vor. Die Reaktion der Kultusminister auf die schlechten Testergebnisse beschränkt sich allerdings weitgehend auf Forderungen nach Leistungssteigerung, Qualitätssicherung und Evaluation. Pisa wird damit auf ein rein quantitatives Problem reduziert. Das vorherrschende Prinzip von Auslese und Trennung wird nicht in Frage gestellt, die Qualität des Unterrichts nicht verbessert. Im Zentrum der pädagogischen Diskussion stehen demgegenüber Probleme der Benachteiligung von Schülern durch ihre Herkunft – durch Pisa eindrucksvoll belegt – und das Bearbeiten von Lernproblemen durch Sitzenbleiben, Zurückstellen oder Überweisen an andere Schulen und das Abschieben auf Sonderschulen. All dies wird in anderen Industriestaaten kaum noch praktiziert.

Die integrierten Gesamtschulsysteme in Skandinavien beispielsweise zeichnen sich gegenüber dem viergliedrigen Schulsystem in Deutschland mit Haupt-, Real- und Sonderschule sowie Gymnasium dadurch aus, dass es dort keine Klassenwiederholung, keine Sonderbeschulung und bis zum 9. Schuljahr keine Ziffernzeugnisse gibt. Statt dessen stehen individuelle Förderung benachteiligter Schüler, handlungsorientierter Unterricht, Differenzierung innerhalb der Klassen, Teamarbeit von Lehrern, die Zusammenarbeit mit Schulpsychologen und Sozialarbeitern sowie differenzierte Abschlüsse im Vordergrund.

Auch in der Bundesrepublik existieren seit vielen Jahren Schulen, die nach diesen Prinzipien arbeiten. Es sind Integrationsschulen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Der integrationspädagogische Ansatz in Deutschland ist durch das integrierte Gesamtschulsystem der skandinavischen Länder voll bestätigt worden. Die „Finnlandisierung“ der Berliner Schule hat bereits vor rund 20 Jahren begonnen, als die ersten integrativen Grundschulen eingerichtet wurden. Das Ziel des gemeinsamen Lernens machte ein neues Verständnis von Schule und ein neues Konzept von Unterricht notwendig. Rückblickend kann man feststellen, dass die Integration die bedeutendste bildungspolitische Reform der 80er und 90er Jahre in der Bundesrepublik darstellte. Was hätte also nach dem Finnland-Trip der Kultusminister näher gelegen, als sich im eigenen Land nach guten reformpädagogisch orientierten Schulen umzusehen?

Gegen den Widerstand der Politik

Dass sich Integrationsschulen bei Kultusministern nicht als Träger einer grundlegenden Schulreform eingeprägt haben, hat mehrere Gründe: 1. Sie wurden von Eltern und Pädagogen gegen den Widerstand von Bildungspolitikern durchgesetzt. 2. Schulpolitiker kolportierten viele Jahre lang die falsche Darstellung, integrative Beschulung sei teurer als Sonderschulen. Auch steht integratives Lernen nach wie vor unter Finanzierungsvorbehalt, das heißt Integrationsplätze werden kontingentiert, obwohl diese Regelung gegen das Grundgesetz verstößt und dem Artikel 11 der Berliner Verfassung widerspricht. Dort heißt es unter Bezug auf das Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 3 Satz 2: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und: „Das Land ist verpflichtet, für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen“. 3. Der Widerstand von Seiten der Sonderpädagogik und der Sonderschullehrer gegen Integration war erheblich und stellt noch heute eines der größten Hindernisse bei der Weiterentwicklung des integrationspädagogischen Ansatzes dar. Es ist beispielsweise völlig unverständlich und untragbar, dass Integrationsschulen in der Senatsschulverwaltung nicht in einem eigenen Bereich, sondern beim Referenten für Sonderschulen und sonderpädagogische Förderung angesiedelt sind.

So erklärt sich auch, dass es im Bereich der Integrationspädagogik seit 1989/90, als die damalige rot-grüne Regierung in Berlin im Paragraf 10a des Schulgesetzes das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung als Aufgabe der allgemeinen Schule aufgenommen hat, keinerlei grundlegende Verbesserungen und Weiterentwicklungen mehr gegeben hat – obwohl in Berlin inzwischen rund 70 Prozent aller Grundschulen und 30 Prozent aller Sekundarschulen integrativ arbeiten. Die Rahmenbedingungen für das gemeinsame Lernen in Regelschulen haben sich seither permanent verschlechtert, so dass neuerdings die Zahl der Sonderschuleinweisungen wieder zunimmt. Auch dass Lehramtsstudierende lediglich eine integrationspädagogische Veranstaltung belegen und weder diagnostische Kompetenzen, noch die Fähigkeit zu innerer Differenzierung im Unterricht erwerben müssen, ist völlig unzulänglich.

Diese Geringschätzung gegenüber integrationspädagogischen Reformkonzepten ist in den meisten anderen europäischen Ländern so nicht zu finden. Deutschland liegt also bei Pisa auch wegen der mangelnden Integrationsfähigkeit des Schulwesens auf einem der hinteren Plätze. Die skandinavischen Staaten, insbesondere Norwegen, gehen, auch bei der Abschaffung von Sonderschulen, in Europa voran. Und in Italien sind schon 1971 Sonderschulen per Gesetz aufgehoben worden. Während die Integrationsquote dort bei 100 Prozent liegt, in Portugal bei 70, in Spanien bei 50, in England und Österreich immerhin bei 30 Prozent, liegt sie in der Bundesrepublik bei lediglich zehn Prozent.

Modell für die Schulreform

Integration beziehungsweise Nicht-Diskriminierung ist heute eine weltweite Sozialbewegung. Die EU hat deshalb mit Bedacht das Jahr 2003 zum Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt. Die UNESCO-Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ in Salamanca hatte schon 1994 alle Staaten der Welt aufgerufen, das Prinzip integrativer Pädagogik unabhängig von individuellen Beeinträchtigungen zu realisieren. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat 1997 unter Berufung auf Artikel 3 des Grundgesetzes in einem Beschluss auf Grund der Klage von Eltern einer Tochter mit körperlicher Beeinträchtigung festgestellt: „Integrative Beschulung wird von der pädagogischen Wissenschaft wie von maßgeblichen politischen Gremien überwiegend positiv beurteilt und als verstärkt realisierungswürdige Alternative zur Erziehung und Unterrichtung in Sonder- und Förderschulen befürwortet.“

Die Integrationspädagogik hat sich ein Wort von Richard von Weizsäcker zur Maxime gemacht: Es ist normal, verschieden zu sein. Und sie hat ergänzt: Gemeinsamkeit ist Voraussetzung, um Verschiedenheit akzeptieren zu können. Das gemeinsame Lernen hat für Kinder mit Lernschwierigkeiten besondere Bedeutung. Wegen ihrer Herkunft aus einem oft anregungsarmen Milieu hatten sie nur eingeschränkt Verhaltensmodelle vor Augen, um Leistungsstreben zu entwickeln. Deshalb gibt das Lernen vom Vorbild kognitiv leistungsfähigerer Mitschüler solchen Kindern wichtige Lern- und Entwicklungsimpulse.

Aber auch bei allen anderen Schülern führt Unterricht, der die einzelnen Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptiert und fördert, zu größeren Lernerfolgen. Vergleichende Untersuchungen haben hier eindeutige Ergebnisse erbracht. Integrative Lernarrangements mit flexiblen Arbeits- und Sozialformen entsprechen viel mehr unseren heutigen Lebens- und Arbeitsweisen als das noch immer vorherrschende Modell des frontal organisierten Unterrichts.

Integrationsschulen sind neben einigen Gesamtschulen als einzige Schulform durch Pisa in ihrer Lernorganisation bestätigt worden. Ihr Unterrichtskonzept impliziert eine neue Lehr- und Lernkultur und sollte deshalb die Grundlage bilden für die dringend anstehende Schulreform. Der weitere Ausbau integrativ arbeitender Schulen kann auch deshalb vorangetrieben werden, weil damit keine zusätzlichen Kosten verbunden sind, wenn man gleichzeitig Sonderschulen abbaut. Die Integrationspädagogik stellt den einzigen reformpädagogischen Ansatz dar, der das Ziel verfolgt, das viergliedrige Schulsystem und damit Selektion zu überwinden.

Der Autor ist Professor für Integrationspädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Freien Universität Berlin.

Hans Eberwein

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