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Gesundheit: Evolutionsforschung: Die ersten Europäer waren Asiaten

Der Mensch war schon immer ein Wandervogel. Schon lange vor der Generation Golf zog er munter um den Globus.

Der Mensch war schon immer ein Wandervogel. Schon lange vor der Generation Golf zog er munter um den Globus. So schnürte er mehrfach den Ranzen und erschloss in kleinen Gruppen neue Siedlungsgebiete. Eine erste Wanderwelle vor etwa zwei Millionen Jahren brachte den Homo erectus nach Europa und bis ins fernste Südostasien. Erneut machten sich vor etwa 170 000 Jahren Horden des Homo sapiens von Afrika aus auf den Weg, die in weniger als 100 000 Jahren die Erde besiedelten.

Forscher am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben, zusammen mit schwedischen Genetikern, jetzt bestätigt, was bereits vor Jahren als "Out of Africa"-Hypothese für Aufregung in Wissenschaftlerkreisen sorgte.

Sie verglichen das insgesamt 16 500 Buchstaben umfassende Erbgut der Mitochondrien von 53 Menschen unterschiedlicher geographischer Herkunft und Rasse - vom afrikanischen Kikuyu bis zum sibirischen Eskimo. Mitochondrien sind Organellen, die sich in unseren Zellen befinden. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller modernen Menschen dürfte demnach vor mehr als 171 500 (plusminus 50 000) Jahren in Afrika gelebt haben.

Von dort wanderten unsere Ahnen via Arabien nach Asien und Europa aus, wo sie später andere Menschenformen - wie etwa den Neandertaler - verdrängten ("Nature", Band 408, Seite 708). Zudem deuten alle derzeit verfügbaren molekulargenetischen Studien an, dass offenbar nur eine kleine Population von allenfalls 10 000 Individuen im fortpflanzungsfähigen Alter einst die große Wanderung aus Afrika wagte. Die Studie widerlegt damit einmal mehr die These, dass sich der moderne Mensch in mehreren Regionen der Erde parallel entwickelt hat.

Evolutionslinie von Mann und Frau

Weitere Hinweise gibt eine jüngst publizierte Untersuchung der kalifornischen Stanford-Universität an Y-Chromosomen von 1007 europäischen Männern. Der Leiter der Gruppe, Luigi Luca Cavalli, ein italienischer Genetiker, hat unlängst in seinem Buch "Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage" versucht, die jüngste Evolutionsgeschichte der Menschheit zu rekonstruieren. Dabei zeigt er auf überzeugende Weise, inwieweit eine Synthese aus genetischen, linguistischen und archäologischen Daten die Siedlungsgeschichte des Menschen aufzudecken vermag.

Die Mitochondrien, die Organellen, die man auch die "Kraftwerke" der Zelle nennt, werden stets nur mütterlicherseits vererbt. So spiegelt das mitochondriale Erbgut auch nur die weibliche Seite der genetischen Geschichte der Menschheit wider. Die für Männer spezifischen Y-Chromosomen ergänzen das Bild um die männliche Evolutionslinie. Die jüngste Studie der Stanforder Forscher belegt nun, dass es in Europa wenigstens drei Einwanderungswellen gab ("Science", Band 290, Seite 1155).

So wanderten vor rund 40 000 Jahren Angehörige der Aurignacien-Kultur von Osten nach Europa ein. Diese Kultur war bereits vergleichsweise hoch entwickelt; neben Werkzeugen aus Geweihen, Knochen und Elfenbein ist sie vor allem für ihre steinzeitliche Bilderkunst etwa in französischen und spanischen Höhlen bekannt.

Für diese erste Einwanderung fanden die Forscher auf dem Y-Chromosom eine spezifische und typische Veränderung, den Marker M 173. Bislang war heftig umstritten, ob die Ahnen der Aurignacien-Artisten ursprünglich aus Europa, Asien oder dem Nahen Osten stammten. Der genetische Marker weist jetzt eindeutig eine zentralasiatische Herkunft nach. Demnach besitzt etwa die Hälfte aller männlichen Europäer heute noch das genetische Erbe dieser Steinzeit-Künstler.

Kurz nach deren Immigration, vor etwa 38 500 Jahren, kam es zu einem deutlichen Anwachsen der Menschheit, was auch durch die erwähnte Studie des deutsch-schwedischen Forscherteams am mitochondrialen Erbgut bestätigt wird. Dies dürfte vor rund 1925 Generationen geschehen sein, wobei eine Generationszeit von 20 Jahren zugrunde gelegt wird.

Vor rund 35 000 Jahren hatte die Aurignacien-Kultur in Europa dann ihren Höhepunkt erreicht. Dieser ersten Welle folgten vor rund 22 000 Jahren Menschen der "Gravettien"-Periode aus dem Nahen Osten. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Herstellung bestimmter Kunst- und Gebrauchsgegenstände deutlich von ihren einst zentralasiatischen Verwandten; sie ließen sich jetzt überdies durch einen weiteren genetischen Marker (M 170) auf dem Y-Chromosom kenntlich machen.

Die Aurignacien-Kultur dominierte offenbar im Westen und Süden Europas, die Gravettien-Kultur dagegen im Osten und Mitteleuropa. Während des Höhepunkts der letzten Vereisung in Europa zwischen 26 000 und 16 000 Jahren haben sich jene Menschen, die den Aurignacien-Marker trugen, in eisfreien Refugien auf der Iberischen Halbinsel und in der heutigen Ukraine konzentriert; die Angehörigen der Gravettien-Kultur zogen sich auf die Balkenhalbinsel zurück.

Nach dem Rückzug der Gletscher expandierten beide Bevölkerungsgruppen aus diesen Refugialräumen heraus. Diese rasche Ausbreitung nach der Eiszeit, so die Forscher von Stanford um Ornella Semino und Luca Cavalli-Sforca, sei der Grund warum die genetischen Marker jener beiden paläolithischen Kulturen im Erbgut der heutigen Europäer derart dominieren.

In einer dritten Einwanderungswelle war es vor rund 9000 Jahren schließlich zur "neolithischen Revolution" bekommen, während der sich Ackerbau und Viehzucht aus dem Zweistromland über Europa ausbreiteten. Doch überraschenderweise finden sich nur in 20 Prozent der europäischen Männer Spuren der Y-Chromosomen neolithischer Ackerbauern. Mit immerhin 80 Prozent der ausschließlich vom Vater auf den Sohn vererbten Y-Chromosomen stammt dagegen ein erstaunlich hoher Anteil von den älteren paläolithischen Ahnen der beiden früheren Besiedlungswellen. Mit Hilfe der jüngsten genetischen Daten und der Verknüpfung archäologischer Befunde lässt sich somit die lang umstrittene Frage nach der Herkunft der Europäer beantworten. Europäische Männer verdanken die genetische Ausstattung ihres Y-Geschlechtschromosoms im wesentlichen den altsteinzeitlichen Einwanderern.

Während der Jungsteinzeit kamen dagegen nur vergleichsweise geringe genetische Einflüsse von Seiten der mesopotamischen Ackerbauern aus der Region des "fruchtbaren Halbmondes" hinzu. Offenbar übernahmen die alteingesessenen europäischen Kulturen zwar die Ackerbau-Technologie von den mesopotamischen Neuankömmlingen. Demnach wurden die lokalen Jäger- und Sammler-Gesellschaften Europas von diesen neolithischen Einwanderern nicht ersetzt; vielmehr wurden letztere im Schmelztiegel Europa gleichsam aufgesogen.

Überdies offenbaren die gefundenen neolithischen Marker sogar etwas von der Einwanderungsroute. Da sich die altsteinzeitlichen Marker stets häufiger im Norden Europas finden als im Süden, wo jungsteinzeitliche Marker überwiegen, wird vermutet, dass die Neueinwanderer aus dem fruchtbaren Halbmond per Boot die mediterranen Küsten entlang gefahren sind. Auch andere Studien am mitochondrialen Erbgut weisen einen mit 80 Prozent hohen paläolithischen Anteil aus, gegenüber nur 20 Prozent Erbe der neolithischen Kultur.

Allerdings ließ sich beispielsweise bei der mütterlicherseits vererbten mitochondrialen Erbsubstanz keine Konzentration auf Küstenregionen entdecken, was wiederum unterschiedliche Migrationsabläufe bei Männern und Frauen vermuten lässt. In der Regel schlossen sich die Frauen damals den Familien ihrer Männer an, während miteinander verwandte Väter, Söhne, Brüder häufiger geographisch eng benachbart lebten.

Lange war umstritten, wie Europa zum Ackerbau gekommen ist; ob es sich dabei um eine Bauerninvasion aus dem Orient oder um eine Bildungsrevolution gehandelt hat. Verschiedene Forschergruppen sind hier zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen.

So hatten vor Jahren erste molekulargenetische Studien von Cavalli-Sforza gezeigt, dass Europäer und Bewohner des Nahen Ostens die gleichen Erbgut-Marker besitzen. Da zudem deren Anteil von Ost nach West in Europa abnimmt, deutete dies auf einen Einfluss der neolithischen Einwanderer an der genetischen Komposition der modernen Europäer hin. Andere Forscher hatten dagegen deutlich ältere genetische Marker gefunden, als dass diese von den jungsteinzeitlichen Ackerbauern aus dem Nahen Osten stammen konnten.

Der jetzt vorliegende Befund mehrerer Einwanderungswellen zeigt, warum sich diese Studien nicht widersprechen. Vielmehr verdanken Europäer - wenngleich mit unterschiedlichem Anteil - sowohl altsteinzeitlichen als auch jungsteinzeitlichen Einwandern ihr genetisches Erbe.

Matthias Glaubrecht

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