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Gesundheit: Fast ein Freispruch in zweiter Instanz

NS-Verfahren in Ost und West: Verbrechen an Juden wurden in beiden Staaten erst ab 1960 systematisch geahndet. Wenige Beispiele von Unrechtsjustiz in der DDR

„Die DDR ist tot! Es leben die Akten!“ – heißt ein Bonmot aus Wendezeiten über das aufgeregte Interesse an der papierenen Endmoräne der DDR. Es trifft auch den wundersamen Wandel, den das Vorhaben einer Urteilssammlung „DDR-Justiz und NS-Verbrechen“ erlebte. Vor der Wende stieß die Absicht des Amsterdamer Strafrechtlers Christian Frederik Rüter, die DDR-Strafurteile gegen NS-Tötungsdelikte zu dokumentieren und damit ein Gegenstück zur bundesdeutschen Urteilssammlung zu schaffen, auf wenig Gegenliebe. Das Zentralkomitee der DDR lehnte das ab, weil man Bauchschmerzen wegen der von Walter Ulbricht initiierten Waldheim-Prozesse hatte. Und im Westen fürchtete man wohl, der fehlende Verfolgungseifer würde bloßgestellt. Als die DDR einige ausgewählte Urteile an Rüter schickte, leitete der Generalbundesanwalt ein Verfahren gegen die „Einfuhr verfassungsverräterischer Publikationen“ ein. 1990 war die DDR weg und das Projekt wurde jedermanns Liebling.

Jetzt liegen die ersten Bände vor. Ein Anlass für die „Stiftung Topographie des Terrors“, auf einer Tagung mit Juristen und Zeitzeugen das Profil der NS-Verfahren zu erörtern. Wie sich zeigte, fügt sich die Urteilssammlung nicht in das Schema einer politisch instrumentalisierten Justiz. Sie gibt den Thesen von der Kontinuität der Diktaturen, Propaganda-Urteilen und einer opportunistischen Strafverfolgung, bei der Juden Opfer zweiter Klasse waren, wenig Nahrung. Im Gegenteil: Abgesehen von dem „Ausnahmefall“ der Waldheim-Prozesse, hätten selbst die Rehabilitierungsverfahren nach der Wende „in der übergroßen Mehrheit der Fälle keine rechtsstaatswidrigen Verfahren angetroffen und manchmal die Qualität der DDR-Urteile ausdrücklich gelobt“, so Rüters.

Interessanter vielleicht noch der Ost-West-Vergleich: In beiden Staaten gab es gut 900 Verfahren wegen NS-Tötungsverbrechen. Im Westen verurteilte man drei Personen pro 100 000 Einwohner, im Osten sieben. Im Westen endeten 46 Prozent der Verfahren ohne Bestrafung, im Osten nur 19 Prozent. Das hängt damit zusammen, dass die DDR alliiertes und internationales Recht anwandte, die Bundesrepublik nationales Recht. Überraschend die Ausrichtung der Strafverfolgung: Das Vernichtungsprogramm von Juden, Zigeunern und russischen Kriegsgefangen ist von der NS-Führung angeordnet und zumeist im Ausland verübt worden. Zu erwarten wäre, dass die Strafverfolgung sich darauf ausrichtet.

Denunzianten vor Gericht

Doch bis 1960 befassten sich im Westen wie im Osten nur wenige Verfahren mit Verbrechen im Ausland (19 Prozent), an Juden (21 Prozent) oder Ausländern (32 Prozent). Massenvernichtung (8 Prozent) und Schreibtischtäter (1 Prozent) werden kaum angeklagt. Im Westen mag dies auch aus der Eliten-Kontinuität herrühren, die Verfahren gegen den Policy Making Level des NS-Regime behinderte. Aber im Osten? Rüter bietet eine andere Erklärung: Im Osten wie im Westen sei ein traditionelles Ahndungsmuster wirksam gewesen: Verfolgt wurde das örtliche, zeitlich oder sozial Naheliegende: Denunziationen, Euthanasie- und Endphaseverbrechen. Ermittelt wurde gegen tatnahe Akteure. Unbekannt hingegen war der Staat als Organisator von Großverbrechen. Erst ab 1960 änderte sich das Bild. Beide Staaten zentralisieren und professionalisieren die Strafverfolgung; der Fokus liegt nun bei den Verbrechen im Ausland und an den Juden.

Die Tagung drehte sich um die rechtsstaatliche Qualität der DDR-Urteile. Wie stark war die Justiz in die Politik eingebunden? Günther Wieland, in der DDR Staatsanwalt in der zentralen Arbeitsgruppe zur Aufklärung von NS-Verbrechen, berichtete, dass das ZK nur bei spektakulären Prozessen vorab informiert wurde. In den 50er Jahren habe das zuweilen zu Korrekturen geführt, danach nicht mehr. Den Waldheim-Prozessen gibt auch er eine Sonderstellung: Sie seien der hektische Versuch der DDR-Führung gewesen, Anfang der 50er Jahre einen juristischen Schlussstrich zu ziehen, bei dem über 3000 vormalige sowjetische Internierungshäftlinge – zumeist ohne konkreten Tatvorwurf – allein wegen NS-Mitgliedschaften verurteilt wurden.

Im Gegensatz zu solch politisch inszenierten und juristisch mangelhaft durchgeführten Verfahren steht selbst das DDR-Strafverfahren gegen Kommentator der Nürnberger Gesetze Hans Globke. Auch dies ein Prozess an dessen politischer Stoßrichtung gegen die Bundesrepublik nicht zu zweifeln ist: Schließlich saß Globke wohlgelitten als Staatssekretär bei Adenauer im Bundeskanzleramt. Dennoch wurde der Prozess – wie Wieland und ein Kollege aus der zentralen Arbeitsstelle berichten – juristisch mit großer Akribie vorbereitet.

In Abwesenheit verurteilt

Um gegen den „Schreibtischtäter“ Globke einen konkreten Tatvorwurf erheben zu können, reisten die Staatsanwälte durch die ganze DDR, um Überlebende der Judenverfolgung zu fragen, ob und wie Globke auf ihren Fall eingewirkt habe. Von der Qualität ihrer Anklage sind die Staatsanwälte noch heute überzeugt. Globke wurde in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Auch wenn die DDR-Justiz bei der NS-Verfolgung besser war als ihr Ruf, ein Kapitel lauterer Rechtstaatlichkeit war diese dennoch nicht. Ermittelt hat die Staatssicherheit, und sie arbeitete eben auch wie ein Geheimdienst, erläuterte Staatsanwältin Ursula Solf. Durch Spitzel wurden Kontaktpersonen von Verdächtigen ausgeforscht, Verhöre ohne Verteidiger geführt. Rechtfertigten die Verdachtsmomente keine Anklage, wurde der Verdächtigte schon einmal als IM genutzt.

Gerwin Klinger

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