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Gesundheit: Glücksboten am Horizont

Depressionen lassen das Gehirn schrumpfen – Medikamente sollen es wieder wachsen lassen

Andrew Solomon ist auf dem Höhepunkt seines Lebens. Gerade ist er 30 geworden, er war schon als politischer Berater tätig, er hat einen Roman geschrieben – der junge Mann wird bewundert.

Dann, Solomon befindet sich auf Lesereise, kommt sein erstes, unbeschwertes Leben zu einem abrupten Ende.

„In der Nacht schlief ich kaum und konnte am nächsten Tag nicht aufstehen“, schreibt er in seinem Buch „Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression“ (S. Fischer Verlag, 2001). Es ist der schonungslos offene Bericht eines Menschen, der urplötzlich von einer schweren Depression heimgesucht wird. „Ein Restaurantbesuch kam gar nicht in Frage. Mir fehlte sogar die Kraft, den Freunden abzusagen. Ich lag mucksmäuschenstill da und überlegte, wie man spricht, versuchte herauszufinden, wie man Wörter formt. Ich hatte es verlernt. Da fing ich an zu weinen, spürte jedoch statt Tränen nur ein wirres Würgen.“

Die Depression gehört weltweit zu den schlimmsten und häufigsten Hirnerkrankungen: Im Schnitt leidet jeder zehnte Mensch in seinem Leben mindestens einmal an einer Depression. Frauen sind etwa doppelt so oft betroffen wie Männer.

Die Seelenkrankheit war auch ein zentrales Thema beim diesjährigen Treffen der Wissenschafts-Elite in Denver, Colorado. Jedes Jahr ruft die Amerikanische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (American Association for the Advancement of Science, AAAS) Spitzenwissenschaftler aus aller Welt zusammen, um Ideen und neue Ergebnisse vorzutragen (wir berichteten). Diesmal traf man sich in der US-Metropole am Rande der Rocky Mountains.

Um die Kernaussage der Forscher gleich vorwegzunehmen: Die Depression zeigt, dass auch unsere Seele ein Organ ist, das wie jedes andere Organ unseres Körpers geschädigt werden kann. Unsere Seele ist ein verwundbarer Körper.

So wie die Leber durch Alkohol, die Lunge durch Rauchen und das Herz durch zu fettreiches Essen erkranken können, so kann auch unsere Seele durch bestimmte Umwelteinflüsse Schaden nehmen – durch Vernachlässigung etwa, Missbrauch oder Stress. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute ist: Ebenso wie es Mittel gibt, die unseren Blutdruck senken und so unser Herz schonen, gibt es Medikamente, die die Schatten auf der Seele vertreiben – wenn auch oft nicht vollständig und nicht bei jedem. „Die Arzneien, die wir derzeit haben, wirken nur in 65 Prozent der Patienten“, sagte Ronald Duman von der Yale-Universität in New Haven.

Am weitesten verbreitet sind Substanzen, die das Serotonin im Kopf auf Trab bringen. Serotonin ist ein Botenstoff, den die Nervenzellen des Gehirns, die Neuronen, für ihre Kommunikation benutzen. Wie es scheint, fehlt es Depressiven oft an diesem „Glücksboten“. Das Depressionsmittel Fluoxetin (als „Prozac“ in den USA und als „Fluctin“ in Deutschland im Handel) und andere Arzneien heben die Aktivität des Serotonins im Hirn – und damit die Stimmung.

Wie sich nun herausstellt, ist das Hirn bei einer Depression jedoch noch viel geschädigter, als man gedacht hat. Es fehlt nicht nur an bestimmten Botenstoffen, „auch das Hirnvolumen ist geschrumpft“, berichtete Dennis Charney von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA.

Wenn die Seele krank ist

Blickt man in den Kopf eines depressiven Menschen, trifft man auf weniger Neuronen. Auch die Zahl der Gliazellen, der Stützzellen des Gehirns, die die Neuronen mit Nahrung versorgen, ist reduziert. Das Ergebnis unterstreicht: Bei der Depression ist das Organ der Seele, das Gehirn, ernsthaft krank.

Dabei hat man zweierlei nachgewiesen: Nicht nur unsere Gene, sondern auch Umwelteinflüsse bestimmen unsere Hirnchemie. So zeigen Tierversuche, dass Vernachlässigung in der Kindheit zu den Hirnschädigungen führt, die man auch bei depressiven Menschen beobachtet – wie beispielsweise das verringerte Volumen.

Das Erstaunlichste aber ist, dass die Medikamente, die das Serotonin im Kopf heben, offenbar das reduzierte Hirnvolumen rückgängig machen können: Sie regen das Hirn zu neuem Wachstum an. Der hartnäckige Mythos, Neuronen könnten im späteren Alter nicht mehr nachwachsen, ist damit einmal mehr widerlegt. „Eine Psychotherapie bewirkt vermutlich das Gleiche“, sagte Charles Nemeroff von der Emory-Universität in Atlanta, Georgia.

Trennt man Ratten in den ersten Tagen von ihrer Mutter, so wird ihr Körper im Erwachsenenalter von Stresshormonen geradezu überflutet. Und Stress bedeutet: weniger Serotonin, wie weitere Untersuchungen gezeigt haben.

Lust auf Süßes kehrt zurück

Bietet man diesen in der Kindheit vernachlässigten Ratten Zuckerwasser an, auf das sich jedes durstige Tier normalerweise gierig stürzt, scheinen sich die Ratten nicht besonders zu freuen: Sie trinken genauso gern normales Wasser. „Es ist, als hätten sie die Fähigkeit, Genuss zu empfinden, schlicht verloren“, sagte Nemeroff – ein zentrales Kennzeichen der Depression. Behandelt man die Ratten nun mit einem Antidepressivum wie „Prozac“, gehen nicht nur ihre Stresswerte zurück: Plötzlich bevorzugen sie auch das süße Wasser.

Beim Menschen ist der Zusammenhang zwischen Vernachlässigung in der Kindheit und einer späteren Depression weiterhin unklar, „weil das objektiv extrem schwer zu messen ist“, so Nemeroff. „Bestimmend ist ja das subjektive Gefühl, allein gelassen zu werden.“ Eindeutig nachweisen lässt sich aber, dass Missbrauch in der Kindheit zu Depressionen im Erwachsenenalter führen.

Ja, es zeigt sich, dass Missbrauch in der Kindheit zu einem Zustand von lebenslangem Stress führen kann. Evolutionsbiologen stehen vor einem Rätsel: Es liegt schließlich kein Nutzen darin, wenn ein Trauma in frühen Jahren unserem Gehirn und unserer Seele ein Leben lang schaden. Warum hat sich die Natur hier nicht um einen besseren Schutz gekümmert? Die Leber kann sich erneuern, kann – bis zu einem gewissen Grad – sich selbst heilen. Warum also nicht auch das Gehirn?

Die spekulative Antwort ist: Gerade das Hirn hat in der Kindheit die Funktion, besonders aufnahmebereit zu sein. Es ist die Zeit, in der wir am meisten lernen müssen. Das Hirn lässt sich viel leichter prägen als später im Erwachsenenalter. Die Kehrseite dieser Sensibilität und Flexibilität des kindlichen Gehirns ist: seine Verletzbarkeit.

In einer neuen Studie hat Nemeroff mit einem Hirnscanner den Kopf missbrauchter Frauen durchleuchtet, die an einer Depression litten. Das erschreckende Bild: Just die Hirnstruktur, die für die Gedächtnisbildung zuständig ist, der Hippocampus, war geschrumpft. Es zeigte sich aber auch, dass Antidepressiva das Volumen vergrößern.

„Alle bislang im Tierversuch getesteten Antidepressiva kurbeln das Nervenwachstum an“, sagte der Depressionsforscher Duman von der Yale-Universität. Gibt man vernachlässigten Ratten Prozac, wachsen Nervenzellen des Hippocampus nach. Die Arzneien sorgen nicht nur für eine Vermehrung von Neuronen, sie scheinen auch die Reifung der Zellen und deren Überleben zu fördern. „Wahrscheinlich hat Psychotherapie eine ähnliche Wirkung“, sagte auch Duman. Chemische Stoffe wirken auf die Psyche. Psychische Behandlungen verändern die Chemie im Kopf.

Und neue Medikamente, die über das Serotonin hinausgehen, sind auf dem Weg, wie Dennis Charney von den Nationalen Gesundheitsinstituten berichtete – Substanzen etwa, die die Stresshormone blockieren. Bessere Behandlungsmöglichkeiten sind auch dringend nötig: für die große Gruppe Patienten, bei denen die heutigen Mittel ganz wirkungslos bleiben.

„Fast jeden Tag habe ich kleine Anfälle von Hoffnungslosigkeit und ich frage mich ständig, ob ich wieder abrutsche“, schreibt Andrew Solomon. „Manchmal erschrecke ich wegen eines kurzen Moments, in dem ich mir wünsche, ein Auto solle mich überfahren. Dann muss ich meine Zähne zusammenbeißen, um auf dem Bürgersteig zu bleiben bis die Ampel auf Grün schaltet.“ Und doch, „jeden Tag entschließe ich mich aufs Neue zu leben – manchmal ganz selbstverständlich, manchmal gegen alle Gründe. Ist das nicht ein Anlass zur Freude?“

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