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Gesundheit: Haltung bewahren

Chronischer Rückenschmerz lässt sich mit individuell abgestimmten Therapien beseitigen

Die gute Nachricht zuerst: In den allermeisten Fällen verschwinden Rückenschmerzen nach einiger Zeit von selbst – zwar leider nicht ganz so plötzlich, wie sie gekommen sind, doch immerhin, bevor sie zur dauerhaften Plage werden können. Man kann sie – zumindest für einige Zeit – vergessen.

Bei etwa fünf Prozent der Rückenpatienten wird das Leiden jedoch chronisch. Dann kann es das gesamte Leben verändern. Wie eine große internationale Studie im Jahr 2000 ergab, sind nur 30 Prozent derjenigen, die wegen eines Rückenleidens für mehr als drei Monate krankgeschrieben wurden, zwei Jahre später noch an ihrem Arbeitsplatz – jedenfalls in Deutschland. In den USA sind es 60, in den Niederlanden fast 70 Prozent, so ergab der Sechs-Länder-Vergleich. Moderne Technik und Komfort haben zwar einerseits zahlreiche Tätigkeiten des Lebens vereinfacht, andererseits aber dazu geführt, dass man sich im Alltag nicht mehr so viel bewegen muss. Daher verläuft der Tagesablauf der meisten Menschen relativ starr; laut Statistik verbringt der Mensch durchschnittlich bis zu zehn Stunden im Sitzen! Bewegungsmangel und schlechte Körperhaltung sind zwei Hauptursachen für Rückenschmerzen. Und: die Rückenschmerzpatienten werden immer jünger. Bereits jedes dritte Kind im Grundschulalter weist Haltungsschäden auf. Eine große Rolle spielt hierbei auch die zunehmende Fettleibigkeit bereits im Kindesalter. Schon jetzt ist zirka ein Viertel aller Kinder übergewichtig.

Bei der Behandlung von akuten Schmerzen setzt man inzwischen nicht mehr auf strikte Bettruhe. „Wir haben in Deutschland das teuerste Reha-System der Welt“, sagt der Orthopäde Ulf Marnitz. Im Berliner Rückenzentrum am Markgrafenpark behandelt er Patienten, die zur kleinen Minderheit der Rückenleidenden gehören, bei denen schon fast alles versucht wurde: Sie haben Operationen hinter sich, waren oft mehrfach in einer Rehabilitationsklinik; Erfahrungen mit Krankengymnastik, Schmerzmitteln, Massagen, Chiropraktik oder Akupunktur haben sie ohnehin. Doch viel hat bei ihnen nicht automatisch viel geholfen.

Möglicherweise, weil es sich nicht zum Ganzen fügte. „Statt eines Durcheinanders der Therapien brauchen wir multimodale Behandlungskonzepte, die die zueinanderpassenden Angebote unter einem Dach versammeln“, sagt Marnitz. Im Berliner Rückenzentrum, das nach einem Hamburger Vorbild arbeitet, sind für die chronischen Patienten vier Wochen Therapie vorgesehen, jeder Behandlungstag hat sechs Stunden. Nach einer ausführlichen Diagnostikphase, in der Orthopäde, Schmerzmediziner, Psychologe und Physiotherapeut sich den Neuling genau anschauen, folgt eine interdisziplinäre Konferenz. Alle Behandler erarbeiten dort zusammen eine Empfehlung, auf der das vierwöchige Programm basiert. Die Teilnehmer werden dafür in Gruppen von acht Patienten eingeteilt, die für die gesamte Zeit zusammenbleiben. Auf dem Programm stehen körperliche Aktivität, das Erlernen von Entspannungsverfahren, aber auch Strategien zur Schmerzbewältigung. Die „schweren Fälle“ kommen nicht darum herum, mit Schmerzmitteln zu leben. Vor allem, weil sie ja trotz ihrer chronischen Krankheit ein bewegtes Leben führen sollen. Die ärztliche Kunst der Schmerztherapeuten besteht dann darin, ihnen individuelle „Cocktails“ zusammenzustellen, die man auch über Jahre nehmen kann.

Der Orthopäde erörtert solche Fragen mit der Gruppe auch in einem zweistündigen medizinischen Unterricht, der mit zum Programm gehört. „Alles, was ich Ihnen heute erzähle, müssen Sie mir glauben. In vier Wochen werden sie es aber aus eigener Erfahrung wissen“, sagt Marnitz da zu seinen Zuhörern. Nach Bedarf können auch individuelle Psychotherapien in das Programm eingebunden werden. 20 Krankenkassen haben inzwischenVerträge mit dem Zentrum abgeschlossen.

Wunder gibt es nicht: Nach vier Wochen sind Menschen, die zuvor oft schon Jahre unter Beschwerden an der Hals- oder Lendenwirbelsäule gelitten haben, natürlich nicht „geheilt“. Doch sie haben die Kompetenz erworben, um selbst als Manager ihres chronischen Leidens arbeiten zu können. Ein entscheidender Gewinn an Kontrolle über das eigene Leben – die ein chronisches Leiden sonst eher raubt. Für zehn Wochen kommen sie außerdem einmal in der Woche in der alten Gruppenkonstellation nochmals im Zentrum zusammen. Dann wird auch über die Erfahrungen gesprochen, die einige der Teilnehmer inzwischen im Alltag gesammelt haben. Zum Beispiel nach der Anmeldung in einem der Fitnessstudios, die die Therapeuten ihnen empfohlen haben.

Welcher Sport ist für Rückenpatienten sinnvoll? Darf man überhaupt joggen oder wieder mit dem Tennisspielen beginnen? Marnitz hält nicht viel von Verboten und dirigistischen Maßnahmen. „Die Hauptsache ist, dass man etwas tut, woran man wirklich Spaß hat, nur dann bleibt man dauerhaft bei der Stange!“ Patienten, die jahrelang aus Angst vor einer Verschlimmerung der Schmerzen auf jeden Sport verzichteten, reagieren oft recht ungläubig, wenn sie hören, dass ihnen sogar der alpine Skilauf nicht für alle Zeit verschlossen bleiben muss. Um Rückenschmerzen aktiv vorzubeugen, muss man Bewegung in den Alltag integrieren und ein rückengerechtes Umfeld schaffen. Es gibt viele Möglichkeiten, kleine Bewegungspausen in den Tagesablauf einzubauen: z. B. Telefonieren im Stehen oder Gehen, Treppen steigen oder das Auto gelegentlich gegen das Fahrrad eintauschen. Idealerweise kommt noch zwei bis drei Mal in der Woche leichter Ausdauersport dazu. Welche negativen Auswirkungen überdies ein rückenfeindliches Lebensumfeld haben kann, ist vielen Menschen gar nicht bewusst: Unergonomische Alltagsprodukte, wie z. B. Sitzmöbel und Betten können die Problematik verschlimmern.

Adelheid Müller-Lissner

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