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Heilige Krankheit: Das Jerusalem-Syndrom

Christen, Muslime und Juden – sie alle finden in Jerusalem ihre Heiligtümer. Und manch einen Gläubigen macht das verrückt. Einblicke in eine sehr spezielle Krankheit.

Der Messias trägt einen grünen Rock aus Cord. Tagsüber läuft er durch die Altstadt und predigt, nachts schläft er in Höhlen außerhalb der Stadtmauer. Er hat einen Plan für den Weltfrieden. Aber als er den auf dem Ölberg verkündet, wird er von arabischen Jugendlichen zusammengeschlagen.

Drei Jahre ist das jetzt her. Seitdem hat Uwe Gräbe, Propst der Deutschen Evangelischen Kirche in Jerusalem, den angeblichen Messias nicht mehr gesehen. Die Israelis haben dem Mann, der eigentlich Herbert heißt, ein Einreiseverbot in den Pass gestempelt.

Aber nicht nur Jesus wurde in der Altstadt von Jerusalem gesichtet, auch die Jungfrau Maria, König David und Moses kann man dort treffen. So steht es jedenfalls in den Reiseführern. Jerusalem-Syndrom heißt die psychische Störung, die jedes Jahr einige Touristen befällt. So wie Herbert, den Mann im grünen Cord. Nicht alle von ihnen halten sich für eine Figur aus der Bibel, manche reden auch vom Jüngsten Gericht oder haben andere Wahnvorstellungen.

Uwe Gräbe hat in sechs Jahren nur einen Messias kennengelernt. Aber in seine Gemeinde, die Erlöserkirche im christlichen Teil der Altstadt, kommen oft Menschen, bei denen nicht klar ist, ob sie noch normale Pilger sind oder schon psychisch krank. „Die Mühseligen und die Beladenen“, nennt er sie. Wie die alleinerziehende Mutter, die mit ihren zwei Töchtern kam, weil sie überzeugt war, dass Gott in Jerusalem zu ihr sprechen würde. Monatelang zog sie durch die Kirchen, die Kinder verwahrlosten vor dem Fernseher. „Die Stadt ist ein Katalysator“, glaubt Gräbe. „Sie fördert das, was in den Menschen drinsteckt.“ Im Fall der Mutter war es das Unvermögen, mit einer Lebenskrise umzugehen. Es sind Fälle, die den Pfarrer beschäftigen. Und sie werden mehr, sagt Gräbe, die Messiasse dagegen weniger.

Die Suche nach harten Fällen führt von der Erlöser- zur Grabeskirche, nur eine Straßenecke entfernt. In der Kirche wurden schon einige biblische Figuren gesehen. Weihrauch hängt in der Luft, Tauben fliegen herum. Japanische Geschäftsmänner posieren vor der Grabstätte, Russinnen tragen kurze Röcke und Sonnenbrillen. Frauen mit Kopftüchern küssen die Stelle, an der Jesus’ toter Körper gelegen haben soll. Andachtsvoll legen sie Kerzen auf den kalten Stein. Eine Frau, die aus der Grabstätte herauskommt, schluchzt heftig. Ein erstes Anzeichen für religiösen Wahnsinn?

Nein, würde das Urteil von Arzt Gregory Katz lauten. Er arbeitet da, wo das Jerusalem-Syndrom im Jahr 2000 zum ersten Mal beschrieben wurde: am Kfar- Shaul-Krankenhaus. Die Psychiatrie liegt im Vorort Givat Shaul, einem orthodoxen jüdischen Viertel, in dem Männer schwarze Hüte tragen und Frauen lange Röcke. Die Klinik besteht aus kleinen, verstreut liegenden Häusern. Es sind die Überreste eines arabischen Dorfes, das bis zum israelisch-palästinensischen Krieg 1948 hier stand. „So ist das im Krieg: Die einen gewinnen, die anderen verlieren“, sagt der Pförtner auf dem Weg zur Notaufnahme. Vielleicht passt es zu dieser Stadt, dass dort, wo Muslime einst von Juden vertrieben wurden, heute Christen behandelt werden. Vielleicht sind die Touristen mit Jerusalem-Syndrom gar nicht die Verrücktesten hier.

Gregory Katz – schlank, Brille, kurze graue Haare – ist der Leiter der Notaufnahme. Zu ihm kommen diejenigen, die so auffällig sind, dass sie jemand einliefert. Die Polizei zum Beispiel. Denn der Versuch, in der Altstadt Muslime und Juden zu bekehren, endet manches Mal in einer Schlägerei.

Die Krankheit tritt in zwei verschiedenen Varianten auf: Beim „reinen“ Jerusalem-Syndrom war der Betroffene vorher noch nicht psychisch krank. Erst nach der Ankunft in Jerusalem gerät er in einen manischen Zustand. Von diesem Typ bekommt Katz nur etwa einen Fall pro Jahr. Häufiger ist der zweite Typ, das „überlagerte“ Syndrom. Diese Patienten waren vorher schon krank, meist manisch-depressiv oder schizophren. Von denen gibt es 15 bis 30 pro Jahr. Der Drang, die heiligen Stätten in Jerusalem zu sehen, ist bei ihnen oft Teil der Krankheit.

Insgesamt gibt es jedoch immer weniger Fälle. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Patienten um 40 Prozent gesunken, sagt Gregor Katz. Der 50-jährige Psychiater redet langsam und stockend. Auf keinen Fall will er allzu einfache Erklärungen für das Phänomen abgeben. Er glaubt nicht daran, dass die Stadt eine bestimmte Atmosphäre habe, die die Menschen krank mache. „Es ist alles in unserer Psyche“, sagt er – und vergleicht Jerusalem mit Graceland, wo Elvis-Fans gelegentlich durchdrehen. „Für religiöse Christen ist Jerusalem ein Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Da zu stehen, wo Jesus gekreuzigt und beerdigt wurde: Das ist eine einmalige Erfahrung, die sehr verwirrend sein kann.“

Katz’ Job ist es, jeden Patienten zu verstehen. Nachsichtig erzählt er von der Frau, die in ein Krankenhaus kam, um den Messias zur Welt zu bringen. Oder von dem Mann, der dem Küchenpersonal im Hotel befahl, das letzte Abendmahl zuzubereiten. Einige der Patienten fallen auf, wenn sie die Hotellaken als Gewand benutzen. Beliebt seien bei den Patienten die günstigen Unterkünfte in der Altstadt, sagt der Arzt, wie das Petra-Hostel.

Manche robben auf ihren Knien durch die Grabeskirche

Das Petra-Hostel liegt kurz hinter dem Jaffa-Tor, durch das die meisten Touristen in die Altstadt strömen. Händler versuchen, rosafarbene Schals aus Indien loszuwerden und begrüßen jede vorbeilaufende Frau gewissenhaft mit einem „I like you“. Aus dem Gedränge führt eine Stiege nach oben, wo Hostelmanager Hazim Saeed hinter einer Glasscheibe sitzt. „Nein“, sagt er bestimmt, er wisse von nichts. In seiner Herberge haben keine Verrückten gewohnt. Er sorgt sich wohl um den guten Ruf seines Hauses.

Also weiter durch die Gassen, vorbei an spanischen Pilgern, die ein mannsgroßes Holzkreuz schleppen, und griechisch-orthodoxen Mönchen in schwarzen Kutten. Die meisten Hotelbetreiber haben noch nie von dem Syndrom gehört: „Jerusalem what?“, fragt einer. Das Jerusalem-Syndrom hat belgische Rockbands zu ihrem Namen inspiriert, französische Filme, türkische Songs und amerikanische Bücher. Aber in der Altstadt will es keiner kennen?

Dann, im ruhigeren armenischen Viertel, kennt es doch einer: Adam Edilih. Seit zwei Jahren arbeitet der 30-Jährige an der Rezeption vom Citadel Hostel. Drei Leute hat er seitdem getroffen, von denen er glaubt, dass sie das Jerusalem-Syndrom hatten. An einen erinnert er sich besonders gut. „Das war ein netter Typ, gebildet, kein Dummschwätzer wie so viele andere.“ Er kam aus Finnland, Mitte 30, und wollte Urlaub machen mit Frau und Tochter. Er trug Shorts und Sportschuhe und war rasiert. Dann, plötzlich, ließ er sich einen Bart wachsen. Jeden Tag trug er dieselben Kleider, „Hippielook“, sagt Edilih verächtlich.

Tagsüber ging er in Kirchen und zu Pfarrern, und wenn er abends ins Hostel kam, faselte er von Sünden und Umkehr. „Er war immer noch nett, aber man konnte sehen, dass etwas mit ihm nicht stimmte.“ Ein paar Monate später kam er zurück, allein. Die Frau hatte ihn verlassen. Bis heute kommt er drei- oder viermal im Jahr. Edilih weiß nur, was der Finne ihm erzählt: Dass er dazu bestimmt ist, in Jerusalem zu beten.

Bei Doktor Katz ist der Finne bisher nicht gelandet. Denn er ist nie so auffällig geworden, dass man ihn einliefern musste. Sein Profil passt aber zu dem anderer Betroffener. Die meisten stammen aus den USA oder aus Skandinavien. Fast alle sind sehr religiöse Christen, in der Regel Protestanten. 400 Christen hat Katz in zehn Jahren behandelt, aber nur zwei Muslime und vier Juden. Warum das so ist, darüber will Gregory Katz nicht spekulieren. „Wenn ein jüdischer Arzt über christliche Pilger spricht, kommt das nicht so gut an.“ Sicher ist, dass die Patienten im Durchschnitt 35 Jahre alt sind. Und dass es Frauen etwas öfter trifft als Männer. Diagnostiziert wurde das Syndrom 2000 vom israelischen Arzt Yair Bar-El. Aber Berichte darüber sind schon viel älter.

Die Spuren zum Ursprung der Krankheit führen hinauf auf den Skopus-Berg. Hier hat man eine gute Sicht auf die Altstadt, ein Meer weißer Dächer, aus dem golden die Kuppel des Felsendoms ragt. Hier oben liegt die Universität, und die Regale der Bibliothek sind voll mit Büchern zur Stadtgeschichte. In einem davon steht, dass in den 1930er Jahren ähnliche Symptome als „Fièvre jerusalemienne“, also als Jerusalem-Fieber, bezeichnet wurden. Auch aus dem 19. Jahrhundert sind Fälle überliefert. Und schon im Mittelalter beschrieben Pilger ihre besonderen Erlebnisse in der Stadt.

Eine von ihnen war Margery Kempe. Im frühen 15. Jahrhundert pilgerte die Engländerin durch Europa und Asien. Die beschwerlichste Reise führte sie nach Jerusalem. Ihre Ergriffenheit beschreibt sie, wie immer in dritter Person von sich erzählend, so: „Und als sie zum Berg Golgatha kamen, fiel sie hin, weil sie nicht stehen oder knien konnte, und rollte und rang mit ihrem Körper, und spreizte ihre Arme ab, und schrie mit lauter Stimme, als ob ihr Herz auseinanderbräche. Denn in der Stadt ihrer Seele sah sie wahrlich und klar, wie Unser Herr gekreuzigt wurde.“

Zwar hielt sich Margery Kempe nicht für eine Figur aus der Bibel. Aber ihre Anfälle und Visionen – öfters erschien ihr auch Jesus – wären typisch für das Syndrom. Ihre Beschreibungen erinnern an einen Fachartikel vom Arzt Yair Bar-El, in dem er die Symptome so schildert: Zu Beginn sind die Betroffenen aufgeregt und schotten sich ab. Später waschen sie sich obsessiv und ziehen weiße Gewänder an. Viele singen laut oder rufen Bibelverse. Oft werden sie in diesem Zustand schon eingeliefert. Falls nicht, prozessieren sie im letzten Stadium der Krankheit zu einer heiligen Stätte, um dort zu predigen.

Zurück in der Altstadt. Wenn man nicht nur nach weißen Bettlaken Ausschau hält, fallen plötzlich einige seltsame Menschen auf: Auf der Via Dolorosa läuft einer ganz in Weiß, ein goldenes Stirnband um den Kopf, und hebt die Arme, als wolle er predigen. Ein Andenkenverkäufer kennt eine Frau, die auf Knien durch den Chorraum der Grabeskirche robbt und sich für Maria Magdalena hält. Ein Touristenführer erzählt, dass er bereits Verrückte an der Klagemauer gesehen habe, die dort Juden bekehren wollten.

Der Weg dorthin führt einmal quer durch die Altstadt. Vorbei am arabischen Markt, wo blechern der Muezzin aus den Boxen ruft; vorbei an der Grabeskirche, in der sechs christliche Gemeinden darum streiten, wer welche Treppenstufe putzen darf, dessen Hausmeister deshalb ein Moslem ist, und wo immer ein Gedränge herrscht. Vielleicht ist einfach der Platzmangel das Problem. Vier Viertel gibt es auf einem knappen Quadratkilometer, ein christliches, jüdisches, muslimisches und armenisches. 1948 besetzten Jordanier die Altstadt und warfen die Juden hinaus. 1967 besetzten Israelis die Altstadt und warfen die Araber hinaus. Heute ist der Status ungeklärt. Das israelische Militär kontrolliert zwar die Altstadt, aber die internationale Gemeinschaft erkennt die Besatzung nicht an. So kommt es, dass eine unscheinbare Holzbrücke zwischen Tempelberg und Klagemauer israelische, jordanische und ägyptische Politiker streiten lässt. Wer das normal findet, ist verrückt.

Dunkelblau hängt der Himmel über der Klagemauer, Scheinwerfer erleuchten ihren hellen Stein. Vielleicht bietet die Stadt einfach eine gute Kulisse, um durchzudrehen – für Pilger wie für Einheimische. Es ist Freitagnachmittag, der Sabbat beginnt. Auf dem Vorplatz warten Hunderte Soldaten, die Maschinengewehre über der Schulter, um zusammen zu feiern. Orthodoxe Jungen tanzen Arm in Arm zum Gebet, Ultraorthodoxe eilen mit der Thora in der Hand an ihnen vorbei. Ein verschwitzter Jogger bahnt sich seinen Weg durch die Menge.

Ein weißes Gewand trägt keiner. Die Suche nach dem Jerusalem-Syndrom, sie endet hier. Diese Stadt, das wird wieder einmal klar, ist mehrfach geteilt: Nicht nur zwischen Klagemauer und Tempelberg, jüdisch und arabisch, West- und Ostjerusalem. Sondern auch zwischen den säkularen Juden, die am Sabbat joggen gehen, und den Ultraorthodoxen, die Werbeplakate mit weiblichen Models am liebsten verbieten möchten.

In dieses Chaos kommen die Touristen. Die allermeisten von ihnen werden nicht verrückt. Sie gucken Kirchen, Moscheen und Synagogen an und fahren wieder. Die allerwenigsten lernen Doktor Katz so kennen wie der Messias auf dem Ölberg. Und ein paar werden einfach seltsam.

Wie der Mann, der stundenlang am Ausgang der Altstadt steht. Am Jaffa-Tor wartet er mit langem Bart, stumm und unbeweglich, während die Touristenmassen an ihm vorbeiziehen. Die Schrift auf seinem T-Shirt ist auch im Dunkeln gut zu lesen. „Jesus is coming back.“

Mounia Meiborg

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