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Gesundheit: Heilung ausgeschlossen

Manche Frauen sind von einer rätselhaften Störung betroffen, die ihre Beine anschwellen lässt In einer Charlottenburger Selbsthilfegruppe unterstützen sich Lipödem-Patientinnen gegenseitig

„Sandra? Das ist doch die mit den dicken Beinen, die ansonsten total schlank ist.“ So ist Sandra Bodogh seit ihrer Jugend beschrieben worden. In der Pubertät fing es an: Ihr Oberkörper blieb schlank, aber ihre Beine wurden immer dicker. Später bildeten sich unförmige Dellen. Keine Diät, kein Sport half dagegen. Irgendwann trug die heute 42-Jährige Hosengröße 50, während ihr Blusen in Größe 40 passten. Den Ärzten blieb ihr Fall lange Zeit ein Rätsel. Vor knapp fünf Jahren dann die Diagnose: Lipödem.

Immer dicker werdende, schmerzempfindliche Beine, von knotenartigen Dellen übersät: Das ist das hässliche Gesicht des Lipödems. „Betroffene Frauen sehen quasi aus wie falsch zusammengesetzt“, so beschreibt es Anett Reißhauer, Oberärztin an der Charité und Leiterin des Arbeitsbereich Physikalische Medizin und Rehabilitation. Charakteristisch sind ein schlanker Oberkörper und eine symmetrische Beinschwellung vom Becken bis zum Sprunggelenk, während die Füße schlank sind. Das Lipödem ist keine spezifische Form des Übergewichts, sondern eine chronische Fettverteilungsstörung, bei der zugleich das Lymphsystem geschädigt ist. Noch wissen Experten wenig über die Ursachen. Weil jedoch überwiegend Frauen betroffen sind, geht man davon aus, dass das Lipödem hormonell bedingt ist. Die Störung tritt meist gegen Ende der Pubertät oder nach der Schwangerschaft auf. Neben dicken Beinen besteht eine ausgeprägte Neigung zu blauen Flecken und Blutergüssen. Sind Männer betroffen – es sind wenige –, dann ist oft die Leber geschädigt.

Vermutlich ist die Neigung zum Lipödem vererbbar. Die Störung entwickelt sich allmählich. Unbehandelt wird sie in Phasen schlimmer und schmerzhafter. Sie beginnt oft mit Orangenhaut, im Volksmund „Zellulitis“ genannt. In der ersten Phase entwickelt sich eine fettreiche Schwellung im Bereich der Hüften, während das Unterhautfettgewebe noch gleichmäßig weich und die Haut glatt ist. In der zweiten Phase treten tastbare Knoten auf und das Gewebe wird fester.

Irgendwann entwickeln sich große Dellen am stark geschwollenen Bein, die bis zu den Knöcheln reichen können. Oft erscheinen in dieser dritten Phase an den Innenseiten der Oberschenkeln Fettlappen, die aneinanderreiben und das Laufen erschweren. Besonders schmerzhaft wird es, wenn sie sich entzünden, weil die Haut sich wund gescheuert hat. Nicht selten führt die Verdickung der Ober- und Unterschenkel auch zur Eindrehung des Kniegelenks und durch den Abrieb am Knorpel zu einer Arthrose. „Wenn das Lipödem nicht behandelt wird, kommt irgendwann ein sogenanntes Lymphödem dazu“, sagte Reißhauer. Dann entwickelt sich eine Schwellung der Vorfüße, die Zehen verändern ihre Form. Im schlimmsten Fall tritt eine Elephantiasis auf – ein „Elefantenbein“.

Über ihren Leidensweg spricht Sandra Bodogh in einer Selbsthilfegruppe, die sich vor einem Jahr im Verein Nachbarschaftshaus am Lietzensee in Charlottenburg gegründet hat. Bisher tauschen sich dort neun Frauen zwischen 27 und 71 Jahren aus: „Wir begleiten uns im weitesten Sinne“, sagt Co-Gruppenleiterin Ingrid Hefler, die seit zehn Jahren von ihrer Erkrankung weiß. Oft würden Betroffene von Ärzten unsinnige Therapien oder Medikamente empfohlen bekommen, die viele noch mehr verunsichern. „Mir wurden etwa nasse Lappen empfohlen, um meine Dellen zu kühlen“, erzählt Barbara Linke, eine der Teilnehmerinnen.

Die richtige Diagnose fällt vielen Ärzten auch deshalb schwer, weil viele Betroffene zusätzlich zum Lipödem stark übergewichtig sind. „Für ein Lipödem gibt es jedoch ganz klare Anzeichen“, sagt Reißhauer. Ist die Diagnose einmal gestellt, müsse der Patientin klar werden, dass es keine Heilung gibt und sie sich auf eine lebenslange Therapie in Form von Lymphdrainagen, Tragen von Kompressionsstrümpfen und regelmäßigem Beinmuskeltraining einstellen muss.

Denn diese Maßnahmen helfen bei der „Entstauung“. Kompressionsstrümpfe verhindern, dass sich das Gewebe wie ein Schwamm mit Flüssigkeit vollsaugt, die Lymphdrainage unterstützt die Gefäße durch eine spezielle Massage dabei, das Wasser abzutransportieren und über die Niere auszuscheiden. „Deshalb muss ich nach der Behandlung auch immer dringend auf die Toilette, sagt Barbara Linke. Und Bodogh ergänzt: „Den gleichen Effekt haben auch die Strümpfe. In denen fühlst du dich wie eine eingequetschte Zitrusfrucht. Besonders hart ist es im Sommer, weil du einfach nur schwitzt.“

Auch wenn Sport keine Heilung verspricht, rät Reißhauer ihren Patienten, viel zu schwimmen, die Beinmuskeln zu trainieren und langes Laufen oder Stehen zu vermeiden: „Der Wasserdruck hilft bei der Entstauung und kühlt im Sommer. Denn ab 28 Grad ist es eigentlich nicht mehr möglich, die Kompressionswäsche zu tragen.“ Doch die Betroffenen leiden nicht nur unter körperlichen Schmerzen. Viele sind traurig über das eigene Spiegelbild. Sie schämen sich, ins Freibad zu gehen und tragen weite, lange Kleidung, um die Beine zu verbergen. „Der soziale Druck, was Äußerlichkeiten betrifft, ist groß. Viele fühlen sich isoliert. Zudem steht im Internet viel Mist über die Erkrankung“, so Reißhauer.

Mit der Fettabsaugung existiert seit einigen Jahren eine kausale Behandlungsform, die körperliche und psychische Beschwerden lindern soll. Sandra Bodogh hat bereits fünf Liposuktionen vornehmen lassen. Die Kosten des Eingriffs sind von der Kasse übernommen worden. Doch das ist nicht der Regelfall. „Es gibt noch keine Langzeitstudien“, sagt Reißhauer, „die Methode hat ihre Komplikationen. Es gilt abzuwägen.“ In der Charité würde man nur darauf zurückgreifen, wenn konservative Methoden versagt hätten. „Flächendeckend kann man die Liposuktion noch nicht einsetzen.“

Sophie Groß (Name geändert) hat vor gut einem Jahr von ihrer Erkrankung erfahren. Schon lange vorher hat sich die 27-Jährige mit ihrem Schicksal abgefunden, aber dennoch stetig versucht, mit viel Sport die Zunahme an den Oberschenkeln zu verhindern. „Nur meine Mutter hat nicht lockergelassen. Sie meinte, etwas könne nicht richtig sein, weil meine Proportionen immer unstimmiger wurden.“

Heute ist Sophie Groß das erste Mal in der Gruppe – und die Jüngste. „Glücklich war ich nicht, dass es eine Krankheit ist. Ich hätte lieber mein ganzes Leben lang Diäten gemacht als zu wissen, dass es nie mehr weggehen wird.“ Ihre Sitznachbarin Sandra Bodogh lächelt sie aufmunternd an. „Das kann ich verstehen, aber irgendwann kommst du sicher auch an den Punkt, an dem du lernst, dass du dir davon das Leben nicht bestimmen lässt.“

Die Selbsthilfegruppe trifft sich jeden zweiten Sonntag im Monat von 11–13 Uhr im Nachbarschaftshaus am Lietzensee e.V., Herbartstraße 25, Tel: 030-30 30 6512

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